Fremdsprachen

aus Walter Borgius »Die Schule, ein Frevel an der Jugend« aus dem Jahr 1930 (Verlag Radikaler Geist) Seite 152

Der Unterricht im Deutschen und in der Literatur führt uns zu dem in Fremdsprachen. Von ihnen, namentlich vom Lateinischen, wird ja immer behauptet, daß sie als Instrument geistiger Schulung unvergleichlich wären. Hieran ist in der Idee sogar etwas Wahres: Die Sprache zeigt das innerste Denken des Menschen und wenn man sich mit Sprachwissenschaft näher beschäftigt, so erstaunt man über die verblüffend verschiedene Art und Weise, wie verschiedene Gruppen des homo sapiens ihre Gedanken zum Ausdruck bringen. Man vergleiche einmal, wie dieselbe einfache Mitteilung sich gestaltet etwa in den chinesischen Dialekten, in denen der Bantu-neger, in der Sprache der Eskimos, der Samoaner, in den semitischen Sprachen, im Tür­kischen usw.: Die “isolierenden Sprachen” des fernen Ostens stellen einsilbige, nicht weiter zerlegbare Wörter ohne jedes Zeichen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten grammatischen Kategorie oder ihres Verhältnisses zum ganzen Satz nebeneinander und lassen ihre Bedeutung nur durch die Stellung im Satze hervortreten, wozu über­dies noch die Eigentümlichkeit kommt, daß die gleiche Wortsilbe durch die Art des Tons, mit dem sie ausgesprochen wird, eine ganz ver­schiedene Bedeutung erhält. Die afrikanischen Negersprachen umgekehrt verbinden jedes Wort mit einem bestimmten Präfix, welches anzeigt, zu welcher begrifflichen Gruppe der damit ausgedrückte Begriff gehört: Person, Ding, Menge, Lebendiges, Beschaffenheit, Individuelles, Richtung, usw.; im ganzen (je nach dem Dialekt) 1 1/2 bis 2 Dutzend, während die Wortstellung kaum eine Rolle spielt. Die grönländische Sprache macht jeden Satz zu einem einzigen Wort, indem in das wesentliche Grundwort die damit verbundenen weiteren Be­griffe in Art von Suffixen formal eingefügt werden. (Statt: “Eine amüsante Geschichte ist folgende”: würde sie etwa sagen: “Zunge MißbesitzEinzigartigesergötzlichessogewordenes”.)

Die türkische Sprache (und ebenso die ungarische) zeigen die Eigentümlichkeit der sog. “Vokalharmonie”, daß sich nämlich jeweils der Vokal der (in großer Zahl vorhandenen) Suffixe dem Vokal des Grundwortes anzu­passen hat und alles, was durch Vokalharmonie zusammengehalten wird, als ein Wort anzusehen ist. Die semitischen Sprachen haben die Eigenart, daß ihre Worte nur aus drei Grundkonsonanten gebildet werden, während die verschiedenen (ungeschriebenen) Vokale dann die nähe-re Bedeutung anzeigen und modifizieren (z.B. beim Verbum: Aktiv, Passiv, Gegenseitigkeit, Wiederholung, Intensität, Kausalität u.a.m.). — Man sieht aus diesen kurzen Andeutungen bereits, welch einen in der Tat außerordentlich das Denken schulenden Wert es haben könnte, wenn die Schüler etwa die nordchinesische Umgangs­sprache, die ägyptisch-arabische Umgangssprache, die Osmanlisprache, die Szubijasprache (der südafrikanischen Neger am oberen Sambesi), die grönländische Sprache und vielleicht noch die samoanische Sprache in den Grundzügen lernen würden oder wenigstens drei bis vier der­selben. Dabei würde es durchaus genügen, wenn sie die Grundlagen sich soweit aneigneten, daß sie einen ganz einfachen kurzen Text ungefähr dem gedanklichen Inhalt nach entziffern könnten. Das würde ihnen sogar viel Spaß machen und noch lange nicht so viel Zeit und Kraft in Anspruch nehmen, wie jetzt auf Englisch und Französisch, Latein und Griechisch verwendet werden muß.

Aber es ist ja offenes Geheimnis, daß die “Schulung des Geistes” nur ein Vorwand ist. Das erweist schon die Auswahl dieser vier euro­päischen Sprachen. In ihrem Bau sind sie einander so gleich, daß kaum irgendwie die Verschiedenheit menschlicher Denkweise dabei zutage treten kann: es sind alles indogermanische Sprachen von sogar naher Verwandtschaft; nicht mal auf die beiden Hauptgruppen der sog. “centum”- und “satem”-Sprachen verteilt!

Das Lateinische und Griechische ist einfach ein absolutes Ueberbleibsel aus der Zeit des Humanismus. Für die Aufrechterhaltung des Griechischen, das mit seinem großen Formen­reichtum ungewöhnliche Ansprüche an mechanische Gedächtnis­arbeit stellt, sind auch nicht die fadenscheinigsten Gründe mehr beizubringen. Die griechischen Meisterwerke liegen längst in aus­gezeichneten Uebersetzungen vor und wo sie dennoch unvollkommen (wie jede Uebersetzung) bleiben müssen, reicht der Gymnasialunter­richt auch nicht entfernt aus, den Schülern auch nur das Verständnis dafür nahezubringen. Die einzige praktische Folge des griechischen Sprachunterrichts ist, daß den Schülern das wenige, was sie lesen, durch die Sprachpaukerei verekelt wird und daher die große Gesamt­literatur des griechischen Altertums ihrer krassen Unwissenheit ein unbekanntes Land bleibt. Das Latein, auf welches, abgesehen von der den Hausaufgaben zu widmenden Zeit, dreitausend Unterrichts­stunden oder mehr ver-wendet werden (!), wird angeblich gebraucht, weil später der Jurist das corpus juris, der Theologe die Vulgata, der Historiker die mittelalterlichen Urkunden lesen, der Mediziner seine lateinischen Fachausdrücke verstehen müßte. In Wirklichkeit wird heute vom corpus juris nur gerade beim Referendarexamen noch 10 Zeilen Probe gelesen, weil die Studenten nun doch einmal von der Schule her lateinisch kennen. Das mittelalterliche Latein etwa eines Capitulars Karls des Großen oder der lex Ripuaria ist von dem in der Schule gelehrten Ciceronianischen Latein so verschieden, daß der Student es beinahe neu lernen muß. (Das habe ich im Juristischen Seminar an den leges barbarosiem mit Schmerzen selbst feststellen müssen.)

Die lateinischen Fachausdrücke der Medizin sind genau so ein alter Zopf, wie die der Jurisprudenz es bis vor kurzem waren und würden zum Segen der Sache, wenn eben nicht die nun einmal vorhandene Latein­kenntnis zur Stütze des Standesdünkels ausgenutzt werden sollte, ebenso schnell und einfach verschwinden, wie in der Jurisprudenz, wo das BGB. mit einem Schlage mit der Kumulation, der Exceptio plurium, der Realkaution, der Inquisitonsmaxime, der Präsumtion, der Eventualmaxime, den Korreal- und Solidar-Obligationen, den Konsensualkontrakten, der Superficies und Ephyteusis, den Prädialservituten und all diesem für unentbehrlich angesehenen abgeschmackten manirierten Bombast ein plötzliches Ende machte, so daß nun nicht mehr der Richter, wie noch unserer biederer Amtgerichtsrat M. in O., das polnische Bäuerlein durch den Einwurf verblüffen kann: “Sie mußten doch wissen, daß Sie dem Käufer das praedium liberum zu prästieren hatten?” (das Grundstück lastenfrei zu übergeben).

Bei Englisch und Französisch kann nun von einer Geistesschärfung sicher nicht die Rede sein; denn beide Sprachen stehen unserer deut­schen Auedrucksweise so nahe, daß lediglich eine Reihe von unwesent­lichen Anglizismen und Gallizismen als Besonderheiten festzuhalten sind. Alles andere ist Ausspracheschwierigkeit und voka-bulares Gedächtniswerk. Beides wird durch einige Monate Berlitz-School erfahrungsgemäß viel leichter und besser erworben, als durch gym­nasialen Schulunterricht, der mit langweiligen grammatikalischen Gesetzen und über-strömender Formenlehre einsetzt und dabei das pedantische Ziel verfolgt, der Schüler müsse sich idiomatisch und laut­lich so ausdrücken, daß man “ihm den Deutschen nicht mehr anhöre”. (Was das für einen Zweck haben soll, weiß ich nicht, außer allenfalls für Spione.) Wie weit man praktisch mit dem Schulfranzösisch kommt, habe ich kennengelernt, als ich seinerzeit anläßlich eines Kongresses in Brüssel mir dort ein Paar Lackstiefel kaufen mußte: Das ganze Geschäftspersonal stand mit Sprachführern und Handwörter­büchern um mich herum und ich angst-schwitzend in der Mitte. Und ich hatte doch neun Jahre lang französischen Unterricht gehabt, und war nicht der schlechteste Schüler gewesen.

Wenn man sich überlegt, ein wie geringer Bruchteil der Schüler­schaft später im Leben wirklich einmal in die Lage kommt, mehr als ganz gelegentlich einmal durch einen Zufall überhaupt mit einem Eng­länder oder Franzosen zu reden oder korrespondieren, der nicht Deutsch versteht, und mit dem die Verständigung wirklich erwünscht ist, nicht bloß zum Vergnügen erfolgt, — und wenn man weiter bedenkt, daß mit Russen, Tschechen, Polen, Italienern, Schweden, deren Sprachen wir nicht lernen, wahrscheinlich mindestens ebenso­oft eine gleiche Situation sich einstellt, so wird man zugeben müssen, daß auch in Englisch und Französisch der Schulunterricht nichts als eine zwecklose planmäßige Zeitvergeudung darstellt, deren Ergebnis die wenigen, die es später brauchen können, freiwillig und außerhalb der Schule weit besser erzielen können.

Statt dadurch nur künstlich zu fördern, daß Englisch und Fran­zösisch tatsächlich Weltsprachen werden, sollte man lieber sich mehr für den sehr seriösen Gedanken einer synthetisch geschaffenen europäisch-amerikanischen Gemeinsprache interessieren, die — nachdem jetzt eine der allerersten Autoritäten der internationalen Sprachwissenschaft, der Kopenhagener Universitätsprofessor, Dr. phil. et litt, et jur. Otto Jespersen, mit einem sehr lesens­werten Werk (“Eine Internationale Sprache”, deutsch von Dr. S. Auerbach, Verlag der Universitätsbuchhandlung Carl Winter, Heidelberg, 1928) dafür eingetreten ist, und die Grundlagen dafür entwickelt hat, — tatsächlich die Gestalt eines lösbaren Problems gewonnen hat. Wenn die Staaten, wenn der Völkerbund es gewollt hätten, wäre auch das kümmerliche Esperanto, geschweige das bereits wesentlich einwandfreiere Ido, Occidental, Arulo oder andere Systeme als Inter­nationalsprache anwendbar oder ausbaubar gewesen, könnten wir heute schon praktisch eine Weltsprache haben. Aber die Staaten haben samt und sonders alles Interesse, keine Weltsprache entstehen zu lassen, sondern im Gegenteil die Nationalsprache immer ausgeprägter und getrennter sich auswachsen zu lassen. Denn jede Beseitigung oder Abschwächung der Verschiedenheiten der staatlich eingezäunten Sprachgemeinschaften schwächt ja das stärkste Instrument des staat­lichen Zusammengehörigkeitsgefühls und des Fremdheitsgefühls gegen­über dem Staats-Nicht-angehörigen, das die Untertanenschaft kennt. Darum wird — genau wie bei der Heuchelei mit Pazifismus, Zollabbau, Abrüstung — ein Staat sich nie und nimmer — trotz aller schönen Redensarten bei Gelegenheit von Kongressen und dergleichen — darauf einlassen, praktisch etwas zu fördern, was ernstlich der Entwicklung von internationalem Gemeinschaftegefühl oder internationaler Organisa-tion dient. Das widerspricht seinen vitalsten Herrschafts­interessen.

Soeben erhalte ich eine in diesem Zusammenhang ganz inter­essante briefliche Nachricht: Ende März, Anfang April fand in Genf eine private Konferenz von einerseits den Vertretern der wichtigsten Weltsprachensysteme, andererseits hervorragenden Linguisten von Universitäten verschiedener Länder statt, um einerseits die offizielle Sprachwissenschaft dem Problem einer Weltsprache näher zu bringen, andrerseits die verschiedenen wichtigsten bestehenden Konkurrenzsysteme zu einer Annäherung und eventuellen Ausgleichung zu bringen.

Veranstaltet war diese von nur ca. 20 namhaften Fachmännern zu­sammengesetzte Aussprache von einer seit einigen Jahren in diesem Sinne tätig gewordenen mit erheblichen Mitteln ausgestatteten privaten Organisation der U.S.A., welcher hervorragende, wohlbekannte neu­trale Privatpersonen verschiedenster Kreise angehören.

Es wurden auch erfreuliche Ziele erreicht, insbesondere die Schaf­fung einer neutralen Zeitschrift “Interlinguistica” und die Zusage, das Weltspracheproblem auf dem im Herbst bevorstehenden wissenschaft­lichen Linguistenkongreß zur Sprache zu bringen.

Zwei namhafte Gelehrte, die zu dieser Konferenz eingeladen waren und zugesagt hatten, haben nun zu dieser harmlosen, rein wissenschaft­lichen kleinen Tagung zur Förderung einer Weltsprache keine Ge­nehmigung ihrer Regierung erhalten. Das waren die Professoren derjenigen beiden Länder, die ich hier loyaler Weise nicht nennen darf, die aber den Begriff Staat zur Zeit am krassesten durch­geführt haben.