Unruhige Zeiten – mit besinnlichem Esperanto Feb 2024
Philipp Sonntag / https://www.philipp-sonntag.de / ELBB (Esperanto-Liga Berlin-Brandenburg e.V.), Mitglied von Netzwerk Zukunft, und im Arbeitskreis „Berliner Friedenskonferenz“ vom „Haus der Vereinten Nationen, Berlin (AK HVN)
Längst taugt Esperanto für alles Mögliche, wie von L. L. Zamenhof angedacht. Es sollte im Alltag der Stadt Byalistok für ein friedliches Miteinander der Nachbarn sorgen – trotz unterschiedlicher Muttersprachen. Auf dieser Basis sollten dort die penetrant unnötigen Streitereien überwunden werden.
Inzwischen sind die Krisen weitaus härter geworden.
Da braucht Esperanto auf jeden Fall ein „Update“.
Ungewohnt ist der breite Spagat einer breiten Verwendung, vom genüsslichen Alltag bis hin zur ersehnten Krisenbewältigung. Immer geht es um die gesellschaftliche Rolle von Esperanto. Im Selbstverständnis sollte auffallen, dass diese Rolle vor hundert Jahren stärker politisch aktiv war, als derzeit. Eine Fülle von existenziell bedrohlichen Krisen gab es schon beim Aufbau von Esperanto. Wir widmen uns längst mehr dem genüsslichen Alltag, als den Krisen. Das liefert immerhin immer, immer von neuem, anschauliche Beispiele, wie Esperanto als Sprache pragmatisch brauchbar sein kann.
Aber wofür? Es war ja gegründet worden für Veränderungen in der Politik, für Vertrauens-Bildende Maßnahmen (VBM). Dafür soll unter anderem ein Update für ein „festo“ in den nächsten Jahren angedacht werden. Aber zunächst ein Bericht vom „festo“ Ende 2023.
Wehmütige Hoffnungen
Gab es Ende 2023 einen Anlass für eine „festliche” Stimmung? Es war eine wie gewohnt sympathische Zusammenkunft von Esperantisten. Es hatte die politischen Herausforderungen literarisch ansatzweise mit dabei. Literarisch war es ein machbarer Spagat zwischen innerer Unruhe und beruhigender Weihnachtsfeier.
Gemäß UEA (Zbigniew Galo / Jukka Pietiläinen: UEA – En Konscio de Esperantistoj; kava- pech (2015) gilt:
„Es lassen sich drei Hauptgruppen von Esperantisten unterscheiden:
- Menschen, denen ideologische Motive wichtig sind
- Menschen, für die die praktische Anwendung von Esperanto wichtig ist
- Menschen, die sich hauptsächlich aus Gewohnheit und Hobby für Esperanto interessieren.“
Esperanto war zur Bereinigung von bitteren, jedoch überschaubaren Krisen gegründet worden. Das hatte vor etwa hundert Jahren einen gewissen Erfolg. Wie kann Esperanto derzeit versuchen, irgendeine Rolle im Umgang mit den weltweit enormen Krisen zu übernehmen? Unter anderem fehlt eine gewisse Lockerheit im Selbstverständnis. Daher gelingt es kaum, die Identität von Esperanto angemessen zu modernisieren.
Genüsslicher Alltag als Ventil beim Überdruck akuter Krisen
Auf dem „festo“ der ELBB, welches 2023 wie gewohnt Ende des Jahres stattfand, wurde versucht, die akuten Herausforderungen künstlerisch (satirisch und bildhaft) anzusprechen. Dazu zunächst ein kurzer Bericht als lockere Einführung. Da geht es um genüsslichen Alltag vor dem Hintergrund von existenziell bedrohlichen Krisen.
Wir sind gesellschaftspolitisch unsichtbar. Aber wir möchten gesehen und gehört werden. Da konnte auf dem festo sogar ein – rein symbolisches – Reptiliengehirn munter helfen. Es war für Kinder und Esperantisten ein Quietschvergnügen. Es war dieses wunderbare Stoffkrokodil von HABA, siehe www.haba.de
Vielleicht verlangt unser Reptil-Hirn, dass wir unseren Stress erst mal hinaus-schreien:
Eine verträgliche Dosis „krokodili“ (spielerisch auf dem “festo 2023”)
Aber dürfen, ja sogar sollen wir uns danach beruhigen? Wir leben in unruhigen Zeiten: Menschen, sogar Staaten, streiten oft provokant, aussichtslos, bis hin zum Entsetzen. Zu dieser Welt möchten wir Esperantisten seit mehr als hundert Jahren mit einem Zeichen der Hoffnung für eine bessere Debattierkultur beitragen. Leider hatten wir wenig Erfolg und stritten oft heftig miteinander.
Tatsächlich ist unsere Welt in mehrfacher Hinsicht beunruhigend. Es geht um Fressen und/oder gefressen werden. Nervös machen kann uns Esperantisten allein schon „krokodili“, das heißt sobald wir nicht Esperanto sprechen, sondern andere Sprachen. Womöglich besteht die Gefahr gefressen zu werden.
Das illustriert ein Bild vom Fotograf Helmut Newton mit Pina Bausch, sie wird schon fast verschlungen im Maul eines Krokodils, siehe ein geradezu erschreckend wunderbares Bild:
https://www.falter.at/zeitung/20221011/newton
Und ja, wir leben in unruhigen Zeiten: Menschen, oft sogar Staaten streiten oft provokant, aussichtslos, bis hin zum Schrecken. Wir leben mitten in:
Terror!
Horror,
Unglaublich,
Donnerwetter!!
Mitten in solchen Welten möchten wir Esperantisten seit mehr als hundert Jahren mit einem Zeichen der Hoffnung für eine bessere Debattierkultur beitragen. Leider hatten wir wenig Erfolg und stritten oft heftig miteinander. Die Friedenstaube ist im Stress.
Was machen wir für den Frieden? Da gibt es z. B. die UMEA (Universal Medical Esperanto Association); sie wurde 1908 gegründet, „um Esperanto in medizinischen Kreisen zu verbreiten und anzuwenden.“ Was sagt UMEA zum Krieg in der Ukraine? Siehe hierzu eine Notiz von Dr. Christoph Klawe auf https://esperanto.berlin/paco/umea-ukrainio/ mit seinem Beitrag „Krieg in der Ukraine“:
„Die russische Armee ist in die Ukraine einmarschiert und hat damit einen Krieg begonnen. Das hat uns alle schockiert und eine lange Zeit des Friedens in Europa beendet. Wie kann man ein echter Esperantist sein, ohne mit allen Kräften und mit voller Überzeugung gegen alle Kriege generell zu sein, wo immer sie auch stattfinden?“
Aber wie kann dies gelingen? Das ist ein Dilemma. Spontane Gewissheit wird es kaum geben.
Ich habe versucht die Fülle der Optionen aufzufächern und detaillierte Anregungen zu geben, – mit meinem Text (zunächst nur auf Deutsch):
https://esperanto.berlin/wp-content/uploads/2023/11/UpdateEspHomaufDeu.pdf
„Herausforderungen für Identität und Entwicklung von Esperanto vor dem Hintergrund aktueller Krisen“.
Wildes Überleben, das gilt für die gesamte Menschheit, nicht nur für uns.
Hingebungsvoll schaltet sich da gerne unser Reptil-Hirn ein. Wir werden wütend, gegen jegliches Reptil-Hirn. Wir würden es gerne auffressen:
Unsere Humanität (Homaranismo) will das Reptil-Hirn weich gekocht
Design Sonny Sonntag
Das gilt für die gesamte Menschheit, nicht nur für uns. Was hilft? Hierfür ein Aphorismus und ein Gedicht:
„Wir sind eine Gesellschaft der einander Überfordernden!“
Genau das bewirkt nämlich bei jedem Menschen dessen Reptiliengehirn, welches genetisch 500 Millionen Jahre alt ist. So geschieht es bei jedem Menschen, Aufgaben müssen erledigt werden. Zugleich geht es auch darum, den bitter empfundenen Stress zu lindern. Vielleicht so:
Ich möchte mich gehen lassen
wie ein Hefeteig,
auf warmem Kachelofen,
aus üppiger Schüssel
mollig
hinunter quellen —
Ich möchte mich verströmen,
mir einfach so, übermütig, nur für mich selbst,
Anti-Dingsda-Spray, Lippenstift, Zahncreme
alles in die Haare schmieren,
alles stylen
wie ein Friseur,
mit Gartenschere
zurecht schnipseln,
meine ganz eigene
Wellness zelebrieren.
Jedes Reptil-Hirn fühlt sich unbefangen wohl, einfach so
Design Sonny Sonntag
Hauptsache, wir Menschen fühlen uns viel wohler und zivilisierter als Krokodile. Die Krisen der Welt beruhen vielfach auf unzivilisierter Sprache. Das gilt nicht nur für Krokodile, und nicht nur für „krokodili“. Auch wir selbst versuchen, möglichst wenig zu streiten. Wir ermahnen uns mit der Vermeidung von krokodili. Ein feines gemeinsames Essen kann vom Reptil-hirn ablenken.
Keinerlei Krisenstimmung
Bild Sabine Kaemmel
Zukunftsfähiges Esperanto
Heute stehen Krisen längst im globalen Kontext. Es gibt kaum noch „einfach überschaubare“ Krisen. Jedes Beispiel ist „irgendwie“ speziell. Fast jeder Mensch global ist alarmiert, wie kaum zuvor.
Einige Erfahrungen können wir als Esperantisten vorweisen und einbringen. Hierzu nenne ich vier akute Themen, zu denen ich Ansätze vor-strukturiert habe.
Es begann – aus heutiger Sicht geradezu treuherzig-harmlos – in Byalistok. Es geht geradezu grotesk weiter mit dem in ganz Polen „ver-fassungslosen“ Streit über den Umgang mit Medien – und mit der europaweit verstörenden Rolle von Polen, bei grenznahem Krieg.
Was können wir tun? Wie hat Dirigent Barenboim aus einem „Chor globaler Schreihälse“ eine kleine künstlerische Musikgruppe mit feinen Instrumenten gezaubert? Ihn zeichnet eben jene Hoffnung auf friedliche Gestaltung aus, die für Esperantisten fundamental sein sollte.
Für die globalen Krisen gibt es Optionen. Ich greife vier vernetzte heraus:
Zusammenbruch und Wiederaufbau von Gesellschaften. Ein akutes Thema, das zeigt die Hektik bei der Modernisierung von Katastrophen- und Zivilschutz. Es können sich enorme Folgeschäden von staatlichen Versäumnissen herausstellen. Die Verunsicherung der bedrohten Gesellschaften ist auch ein Aspekt in den folgenden drei Themen-Bereichen.
- Es gibt Meinungsfreiheit, Meinungsverwirrung und Meinungsgewalt. Global sind VBM (Vertrauensbildende Maßnahmen, als Schlüssel zu nachhaltigem Frieden) auf einem Tiefpunkt. Das gilt keineswegs nur für Gebiete wie Nahost, Taiwan – und ähnlich bei der Meinungsvielfalt innerhalb Deutschlands. Die aktuell beachtete Erinnerungskultur zeigt, Gewaltbereite bis hin zu Terroristen werden geradezu „gezüchtet“. Homaranismo bezeichnet die Kernpunkte von Barbarei. Esperanto könnte sich als ein neutrales Podium für VBM bewähren – ähnlich wie die Pugwash-Konferenzen für die politische Kontrolle von Atomwaffen.
- mit KI und KE. Experten streiten, wie KI sich entwickeln könnte. Sei es nun hilfreich und/oder risikoreich Die Optionen stark verändern würde eine weitere Entwicklung, nämlich eine KE (künstliche Emotion). Das ist ein nächster, zu erwartender Schritt. Akute Regelungen der EU sind teils instinktive Kompromisse. Solche sind nach wie vor ohne effizienzbasierte Belege, und ohne mehr als marginale Ideen zu KE. Software für KI und KE sind beide selbst Anwendungen von Plansprachen. Kann Esperanto ein Beispiel dafür sein, wieviel Diplomatie und Fingerspitzengefühl es braucht, um KI und KE „menschlich“ zu entwickeln – und was heißt das?
- Vor und nach einer Geburt: Wünsche und Schicksale von Kindern und Eltern. Die Erinnerungskultur offenbart bittere Leiden, die – durchaus konkret, aber doch sehr schwer – vermeidbar wären. Zum Beispiel könnte womöglich eine konsequent globale Ein-Kind-Politik sogar die Entwicklung zu etlichen der bekannten ökologischen Kipppunkte umkehren. Dem steht jedoch der global natürliche und starke Kinderwunsch diametral entgegen. Homaranismo entlarvt Barbarei. Er ist ein Werkzeug, um Optionen abzuwägen.
Vielleicht sollten Gruppen von Esperanto (wie (UEA, DEB, ELBB usw.) für eine zielführende Veränderung rundum unabhängig von allen Machtstrukturen sein, oder mutig, wie Whistleblower. L. L. Zamenhof begann politisch. Wir sind gesellschaftlich nahezu unsichtbar. Wir sind „Abwertende“ und „Zuschauer“; wir sollten erkennen, dass dies, was Verantwortung betrifft, zwei peinliche Schimpfworte sind. Für uns geht es erst mal darum, die eigene Identität zu finden. Dann gilt es, sie in Bezug auf Verantwortung bei akuten Krisen zu präzisieren. Dann können wir unser menschenfreundliches Potenzial sichtbar werden lassen – und vielleicht sogar gesellschaftspolitisch wirksam gestalten.
Philipp Sonntag