Eroschenko in Berlin 1912

Aus dem Buch “Die Bienen und das Unsichtbare” von Clemens J. Setz Seite 303

ISBN: 978-3-518-42965-5 Auch als eBook erhältlich

Ĉie amikoj, überall Freunde

In Warschau stand unser armer Freund Vasilij Eroschenko lan­ge auf dem Bahnsteig.

Wieder rauschte die unendlich orientie­rungsfähige Menschheit an ihm vorüber, ohne ihn zu berüh­ren. Mit den Esperantisten Warschaus war im Vorhinein per Briefkontakt verabredet worden, dass man ihn am Bahnhof in Empfang nehmen und ihm, wie er später im Bericht seiner ers­ten Reise in den Westen schrieb, »beim Umsteigen behilflich sein und Mut zusprechen« werde. Aber es kam niemand. Die Stunden vergingen. Eroschenko wurde hungrig. Umgeben von Fremden, verwirrt in der überraschend aufdringlichen Wärme dieses Februartags, stand er auf dem Perron. Auf seinem Ge­wand trug er den grünen Stern, das Abzeichen dieses angeblich in vielen (und gewiss bald allen) Ländern der Erde sozusagen zur Untermiete existierenden Staates Esperantujo. In seinen Er­innerungen ist es ein Moment, in dem er sich nur durch eiser­ne Strenge und Selbstprüfung davon abhalten konnte, vollkom­men zu verzweifeln. Analysiere deine Empfindungen!, sagte er sich. Schüttle deine Angst ab, denn sie hilft dir nicht weiter. Mit Geld und Verstand wird es schon irgendwie gehen. Das alles sprach er sich vor, Stunde um Stunde.

 
Zu den Sprüngen gehört auch, daß es damals

Kurze Zeit später saß er im Zug nach Berlin.

Die Reiseaufzeichnungen erwähnen nicht, was er unter­nahm, um in den richtigen Zug zu kommen. Ein kleiner Sprung in der Raumzeit. Es ging irgendwie. Sein ganzes Leben ist voll solcher Sprünge. Und nach einer Weile füllt sich selbst das Le­ben desjenigen, der in alten Dokumenten, gesammelten Schrif­ten und Erinnerungen den Stationen seiner Biografie behutsam nachspürt, mit ähnlichen Sprüngen …

Als der Zug in Berlin ankam, war es dort eiskalt. Sonder­bar vollmundig, aber nicht wirklich unverständlich sprechende Menschen umgaben ihn. Ihre Sätze klangen, als hätten sie Kie­selsteine im Mund. Immer wieder verstand er einzelne Wör­ter. Das Deutsche war nur ein, zwei Katzensprünge von seinen bislang erlernten Sprachen entfernt. Glücklicherweise nahmen ihn diesmal Freunde in Empfang.

Freunde, amikoj, dieses Wort verwendet Eroschenko im­mer wieder, manchmal nennt er sie auch bei dem, zumindest damals, in Esperanto-Kreisen gebräuchlichen Begriff samideanoj, Gesinnungsgenossen. Gemeint sind bei Eroschenko da­mit meist die Esperantisten, gelegentlich aber auch die Betrei­ber von Blindenschulen. Das sind die beiden internationalen »Netzwerke«, die ihm die Fortbewegung auf der Erdoberfläche in diesen ersten Reisetagen vereinfachen, und in einer Geste der Wertschätzung vermischt er sie häufig miteinander. Dabei hat­te er eigentlich schon zum zweiten Mal aufgeben wollen, denn in Berlin musste er wieder so lange warten. Stunden dauerte es, bis man ihn fand. Vielleicht waren Bahnhöfe ja Orte, an denen man einfach verloren gehen konnte, dachte er.

»Umsonst leuchtest du, grüner Stern. Geh lieber unter, es wär besser. Niemand braucht Sternenlicht am frühen Morgen. Niemand, außer ein einsamer Blinder.«

Auf dem Bahnsteig wurde es leiser und leiser. Ein Mann mit rauer Stimme rief irgendetwas. Dann wehte der Geruch von bratenden Würsten herüber, von fettigem Brot. Und ein Ge­räusch wie hinter einem Haus aneinandergeschlagene Gieß­kannen.
Eroschenko ging ein paar Schritte auf und ab. Einfach los­lassen, aufgeben. Stern vom Gewand reißen, weg damit.

Aber da eine Stimme: »Vasilo?«

Die „Königliche Blindenanstalt zu Steglitz” gibt es heue noch als Schule für Blinde und Standort für das „Deutsche Blinden-Museum

Mit den Freunden nahm er ein Frühstück zu sich, er diktierte einige Briefe, dann statteten sie dem Blindeninstitut in Steglitz einen Kurzbesuch ab. Ihr Esperanto klang flink, an den Sei­ten abgeschliffen und sehr heiter. Er bemerkte, dass er ganz an­ders sprach als sie, aber schon nach wenigen Stunden konnte er auch problemlos in ihrer Melodie sprechen. Man musste nur, so wie immer, den inneren Stimmstock neu einstellen.

Die russische Esperanto-Zeitschrift brachte eine kurze Meldung überdie Reise unter “Vermischtes”

Dann geht es, seinen Aufzeichnungen zufolge, weiter nach Köln, dort wird er ebenfalls von Freunden erwartet. Bumm, Freunde überall. Es ist schwer für mich, mir so eine Situation vorzustellen. Von Freunden umgeben zu sein, egal wo man [305] sich niederlässt. Auch wenn es eine künstliche und vielleicht auch nicht immer vorteilhafte Struktur in der Welt sein dürfte, dieses Esperantujo, mit all seinen unsichtbaren Verbindungs­fäden, die sich in andere Länder erstrecken, so scheint es, zu­mindest zu Vasilij Eroschenkos Zeiten, nichts auch nur annä­hernd Vergleichbares gegeben zu haben. Nicht mehr als drei Stunden dauert der Aufenthalt in Köln, Eroschenko hat Zeit für Essen, Trinken und ein wenig Aufwärmen, dann geht es weiter. Der Tee, den er am Bahnhof bestellt, hat nicht einmal Zeit, abzukühlen, da muss er schon einsteigen. »Felica estu via vojago!«, ruft man ihm nach. Möge deine Reise glücklich verlaufen.

Und: »Ni esperas vin revidi!« Wir hoffen, dich wiederzu­sehen.

»Dankon, karaj amikoj!«, ruft Eroschenko ihnen zu.

Dann fährt der Zug ab, in Richtung Brüssel.

Später, in seinen Reiseaufzeichnungen, fügt er hinzu: »Aber ich hoffe nicht, euch je wiederzusehen: Man träumt nie zwei­mal hintereinander denselben glücklichen Traum.«

  • La unua eksterlanda vojago«, in: La kruco da sageco.

Ich glaube, mir imponieren diese Stellen in seinem Werk am meisten. Eroschenko bewegt sich innerhalb einer magischen Struktur durch die Welt, eines Katalysator-Netzwerks für Be­gegnungen und Austausch – und doch misstraut er ihr, dieser magischen Struktur. Er wird ihr niemals ganz verfallen, wird niemals vollkommen aufgehen in der völkerverbindenden Uto­pie, innerhalb der dieses wunderliche Esperantujo gedeiht, obwohl er später gelegentlich in Vorträgen und Reden darauf eingeht und die möglichen Vorteile aufzählt. So ganz überzeugt wirkt er dabei nie. Und es ist genau dieses Misstrauen mitten im Beschenktwerden, das unversöhnliche Innehalten kurz vor der Begeisterung, das mir als das eigentlich Erstrebens- und Nach­ahmenswerte erscheint.
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