Rotes Kreuz in Grenzboten 1907

Die »Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst« mit dem Titel »Die Grenzboten« enthielt 1907 auf Seite 514-517 einen Beitrag über »Esperanto und das Rote Kreuz« mit »C. v. H.« signiert. Der Hintergrund war ein Beitrag in der belgische Militärzeitschrift »La belgique militaire« über das Buch des französischen Leutnants Bayol.

Dessen Sprachführer, der im Krieg den Verwundeten die Verständigung mit ihren Helfern erleichtern solle, fand in in ähnlicher Aufmachung in vielen Sprachen eine weite Verbreitung. Die deutsche Ausgabe wurde vom Verlag Möller & Borel in Berlin produziert und für 5 Pfennig verkauft.

Es wird darin eine anerkennende Aussage des Esperanto-Begründers Zamenhof zitiert, der sagte:

Bei den Esperanto-Kongressen 1907 in Antwerpen und 1908 in Dresden waren öffentlich durchgeführte Übungen des Roten Kreuzes zur Versorgung von Verwundeten ein Teil des Programmes.

Esperanto und Rotes Kreuz

Unter dem obigen Titel bringt die belgische Militärzeitschrift La belgique militaire einen Aufsatz des Majors Lemairc und des Dr. Seynaeve, der sich im Anschluß an das Buch des französischen Leutnants Bayol mit der Einführung einer Welt­sprache befaßt. In diesem Artikel wird ausgeführt, daß es sich keineswegs für den Kaufmann allein um eine solche allgemeine Weltsprache handle, sondern daß sie vor allem für eine vollständige Ausnutzung der Wohltaten des Genfer Vereins vom Roten Kreuz notwendig sei. Der Dr. Zamenhof, Erfinder der Esperantosprache, sagt in einem Briefe an den Leutnant Bayol, der zu dem vorjährigen Genfer Esperantokongreß vom Kriegsminister besonders abgesandt worden war: „Das Rote Kreuz gehört zu den Einrichtungen, die eine leicht zu erlernende gemeinsame Sprache ganz besonders nötig haben, denn wenn andre Veranstaltungen zuweilen mit Leuten verschiedner Sprachen zu tun haben, so bleibt ihnen die Möglichkeit, sich einen Übersetzer, einen Dolmetscher, zu bestellen, während das Rote Kreuz fast immer Leuten verschiedner Sprachen gegenübersteht und ein sofortiges gegenseitiges Verständnis bedarf, wenn es wirken soll.”

Das ist gewiß richtig. Denn wie wenig Leute der kämpfenden Heere kennen eine andre Sprache als ihre Muttersprache? Und wenn das selbst anders wäre, weiß man denn im voraus die Nationalitäten, die im Falle eines Krieges miteinander kämpfen werden? Dazu kommt, daß das Bedürfnis, sich verständlich zu machen, gerade da, wo die Tätigkeit des Roten Kreuzes eintreten muß, ein dringendes, ein unmittelbares ist; es entsteht unter höchst kritischen Umständen, wo der Verlust einiger Augenblicke den Verlust eines Menschenlebens nach sich ziehen, oder wo ein Mißverständnis tödliche Irrtümer in der Behandlung der Verwundeten zur Folge haben kann. Weiter, wenn wir uns auf den streng ärztlichen Standpunkt stellen, welche ungeheuern Schwierigkeiten, welche großen Gefahren bestehn für die Ärzte selbst, die die Unglücklichen behandeln müssen, denen sie sich nicht verständlich machen und deren Klagen sie nicht verstehen können: sie allein kennen die Wichtigkeit einer Mitteilung ans dem Munde des Verwundeten; sie wissen, welche Beredsamkeit man oft anwenden muß, damit der Verwundete einen dringenden, sofortigen Angriff duldet, damit er irgendeinen Punkt der Behandlung genau beobachtet, und endlich, welche verderblichen Folgen können aus einer mißverstandnen Antwort entstehen! Und welchen bejammernswertem Anblickgibt es, als den eines Sterbenden, der sein Leben aushaucht inmitten von Fremden, die unfähig sind, ihn zu trösten, während er selbst, obwohl er den Balsam einiger mitleidigen Worte recht gut kennt, stumm bleiben muß; welcher Jammer drückt sich in dem geängstigten Blick eines Sterbenden aus, wenn er seinen Angehörigen nicht noch irgendeinen Gruß, eine letzte Erinnerung zusenden kann! Wenn man diese Bilder betrachtet und sich die ungeheuern Schlachtfelder sowie die tagelangen Schlachten mit ihren Tausenden von Verwundeten und Sterbenden vorstellt, dann begreift man, welchen Nutzen eine solche Weltsprache nicht nur für den Handel, sondern erst recht für das Rote Kreuz hat! Als eiu Beispiel dafür mag ein Auszug aus einer Erzählung dienen, die der Begründer der Genfer Konvention, Dunant, der Augenzeuge der Schlacht von Solferino war und seinerzeit den ersten Nobelpreis erhielt, über die Schlacht geschrieben hat: „In den Straßen wurde ich mehr als einmal von braven Bürgern angehalten, die mich baten, ihnen die Forderungen und Fragen der bei ihnen einquartierten verwundeten französischen Offiziere, deren Sprache sie nicht verstanden, zu übersetzen. Die Kranken regten sich furchtbar ans, weil man sie nicht verstand. Die Pfleger waren empfindlich berührt, weil ihre herzlichsten Aufmerksamkeitenmit schlechter Laune von den fiebernden Leidenden aufgenommen wurden. Einer von ihnen, den ein Arzt zur Ader lassen wollte, glaubte, man wolle ihm den Arm abschneiden, und fügte sich durch seinen heftigen Widerstand großes Leid zu.” Wenn man einmal die geringe Anstrengung betrachtet, die man machen müßte, um in diesem Gebiete einen mächtigen Fortschritt zu erreichen, sollte Man da nicht mit Tolstoi ausrufen: „Die Opfer, die jedermann in unsrer europäischenWelt bringen wird, um einige Zeit dem Studium des Esperanto zu widmen, sind so gering, und die Ergebnisse, die daraus fließen können, so ungeheuer, daß man sich nicht weigern darf, den Versuch zu machen.” Das zweckmäßigsteMittel, die Esperantosprache zu lernen, bietet die Broschüre des Leutnants Bayol „Esperanto und Croix-Rouge”, die in Paris 33, Rue Lacepede und in Brüssel, Librairie Spineux zu haben ist. Das kleine Werk bietet eine durchaus vollständige Angabe aller unumgänglich nötigen Notizen. Der Verfasser verbreitet das Esperanto über das militärische Gebiet zu Wasser und zu Lande, über Krankenpflege, Notes Kreuz usw. und ermöglicht jedermann, sich innerhalb von vierzehn Tagen mit der Sprache vertraut zu machen. Er hat sich zum Ziel gesetzt, die internationalen Beziehungen zwischen den verschiednen Gesellschaften des Roten Kreuzes in den Friedenszeiten zn erleichtern und zu Kriegszeiteu die oben erwähnten unzähligen und traurigen Schwierigkeiten verschwinden zu lassen.

Das erste Kapitel behandelt die Notwendigkeit einer internationalen, einer Weltsprache in den schon obenerwähnten verschiednen Punkten sowie die Lösung, die das Esperantosystem bietet. Dann kommt ein „Schlüssel des Esperanto”, worin sich die ganze Grammatik der Sprache mit einigen Beispielen in Gestalt von Briefen und Zwiegesprächen auf wenig Seiten zusammengedrängt findet. Ein drittes Kapitel bietet eine vollständige Sammlung aller im Kriege üblichen Ausdrücke. Man findet da die genaue Benennung von allem, was sich auf den menschlichen Körper, auf dessen Ernährung und Bekleidung, auf den ärztlichen und auf den Verwaltungsdienst, auf Verwundungen und Krankheiten bezieht, sowie eine Reihe von Unterredungen und endlich sämtliche militärischen Ausdrücke. Als Anhang ist der Text der Genfer Konvention, eine Reihe vortrefflicher Ratschläge für das Erlernen des Esperanto und schließlichein Wörterbuch „Esperanto-Französisch” beigegeben. Der Verfasser hat die Absicht, sein Buch auch in den verschiednen andern Hauptsprachen herauszugeben. Die verschiednen Abteilungen des Roten Kreuzes sollten nun ihrem Programm das Studium der Esperantosprache nach der Methode von Bayol hinzufügen, eine internationale Zeitschrift darüber begründen und einen Schriftwechsel unter den Lazarettpflegern und Pflegerinnen der verschiednen Länder einführen. Dieses Programm ist in Belgien nicht ganz neu; schon vor drei Jahren hat die Antwerpner Abteilung des Roten Kreuzes Lehrkurse in Esperanto mit großem Erfolg abgehalten. Auch für alle belgischen Garnisonen wünschen die beiden Verfasser dieses Aufsatzes, daß Offiziere, geeignete Unteroffiziere, Professoren derartige Lehrkurse einrichteten, die durch die Behörden obligatorisch gemacht werden müßten. Man könnte da den Soldaten schon hinreichende Kenntnisse der Weltsprache einprägen, die durch mündliche Unterhaltungen, Briefwechsel, Bibliotheken usw. festzuhalten wären. In zahlreichen französischen Garnisonen bestehn schon derartige Lehrkurse. Sogar den Analphabeten in der Armee ließen sich durch Auswendiglernen die gewöhnlichsten Ausdrücke beibringen, die unter Umstünden ihnen große Dienste zu leisten imstande wären: man tut das übrigens nach Angabe der beiden Verfasser dieses Aufsatzes schon mit der französischen Sprache in der deutschen Armee und mit der deutschen Sprache in der französischen Armee, und nicht ohne Erfolg. Von dieser Angabe der Verfasser ist mir aber bis jetzt nichts bekannt geworden. Jeder Soldat sollte als notwendige Ergänzung zu seinemVerbandpäckchen ein leichtes Buch der Weltsprache mitführen, das im Falle von Krankheit oder Verwundung auf dem Schlachtfelde seine Leiden außerordentlich mildern könnte. Es kommt indessen auch darauf an, daß sich die Militärbehörden dieser Bewegung nach einer Weltsprache annehmen und die Anstrengungen, die von verschiednen Seiten in dieserRichtung gemacht werden, anerkennen und unterstützen. Dann wird sich dieses Werk der Menschlichkeit gewiß verwirklichen.

Man nehme sich nur Frankreich als Beispiel. Dort hat die Militärbehörde schon angeordnet, auf den Personalberichten über die Offiziere neben der Kenntnis fremder Sprachen auch anzugeben, ob der Offizier die Weltsprache kennt, und zwar geschieht das, indem man schreibt: lit et parle l’Esperanto. Durch ein geordnetes Zusammenwirken ließe sich also ohne große Mühe ein Werk von unschätzbarem Wert schaffen, und man wurde, wie Dr. Zamenhof in dem obenerwähnten Briefe auch schreibt, sich rühmen können, daß man eine große Menge von Trübsal vom Schlachtfelde weggeschafftund die Mitglieder des Roten Kreuzes in ihrem menschenfreundlichen Wirken wesentlich unterstützt habe. Soweit die Belgique militaire. Sicher wäre eine Sprache, in der sich wenigstens alle Kulturvölker verständigen könnten, von unermeßlichem Werte. Es fragt sich nur, ob es nicht mehr zu empfehlen und leichter durchzuführen ist, eine der bestehenden europäischen Sprachen, etwa die schon so weit auf der Erde verbreitete englische Sprache zur Weltsprache und deshalb obligatorisch in allen Ländern zu machen, als eine ganz neue Sprache wie Esperanto oder Volapük zu konstruieren. Die Einführung einer bestehenden Sprache scheint mir leichter durchzuführen.

C. v. H.