Im Jahr 1919 erschien als Nummer 9 in einer Reihe von »Flugschriften« des »Bundes Neues Vaterland« eine Schrift von Dr . Walter Borgius (*1870 in Frankfurt an der Oder) ein Text mit dem Titel »Der Völkerbund. Seine Kultur- und Wirtschaftsaufgaben«, die sich heute visionäre Beschreibung einer Entwicklung liest, die zumindest in Europa noch in Werden ist. Er schlägt ein Parlament und eine übernationale Verwaltung vor und erkennt klarsichtig, dass das zu Sprachproblemen führen wird.
In der Zeitschrift »Weltwirtschaftliches Archiv« 15. Bd. (1919/1920), pp. 430-432 hat der Völkerrechtler Dr. Hans Wehberg (Berlin) die Schrift wie folgt kommentiert:
- Borgius macht zunächst, im Anschluß an Erzbergers bekanntes Buch, dessen Grudgedanken ihm nicht radikal genug erscheinen.
Vorschläge für die Organisation eines Völkerbundes. Die Minıster der auswärtigen Angelegenheiten aller Staaten sollen Stellvertreter ernennen, die im Haag zu einem internationalen Rat vereinigt werden sollen. Die bisherigen Gesandtschaften sollen dadurch überflüssig gemacht und die Verhandlungen von Staat zu Staat in einem Zentralpunkt geführt werden.
Neben den internationalen Rat soll ein internationaler Parlamentsausschuß treten. Der Verfasser sieht ferner Grenzverschiebungen im späteren Völkerbund vor und tritt für eine radikale Abrüstung ein. Das internationale Heer zur Exekution soll nicht aus natioınalen Kontingenten zusammengestellt sein, sondern auf internationaler Grundlage organisiert werden. Weiterhin verlangt Verfasser die Einführung einer Weltsprache.
Mit großer Schärfe versucht Borgíus schließlich den Nachweis zu erbringen, daß wir bisher keine Weltwirtschaft gehabt haben, sondern nur zwischenstaatliche Beziehungen zwischen den nationalen Volkswirtschaften.
Das Ziel des Verfassers ist die möglichst umfassende Internationalisierung, insbesondere der Hochseeschiffahrt, des Post- und Telegraphenwesens. des Münzwesens, der Verteilung der wichtígstelı Rohstoffe, des Handels, der
Kolonialverwaltung, der wichtigsten Versicherungszweige, des Auskunftswesens, der internationalen Rechtsverfolgung, des Patentwesens. des Ausstellungswesens usw. Es sollen also auf allen diesen Gehíeten keine nationalen Institute mehr bestehen bleiben, sondern Weltwirtschalftsämter, Weltpostämter usw. geschaffen werden. Borgius ist sich ganz klar darüber, daß dieses System schließlich zu einem Völkerbundesstaate führen und daher die Entwicklung über den Wilsonschen. Völkerbund hinausgehen wird. Diese Prognose erscheint mit zutreffend, doch wird nicht zu leugnen sein, daß sich gerade auf wirtschaftlichem Gebiet seine Ideen nur im Laufe langer Jahre werden verwirklichen lassen. Borgius geht durchaus eigene Wege. Seine Schrift ist daher weitgehende Beachtung wert.
Wehberg hat 1921 selbst einen Kommentar zur Satzung des Völkerbunds veröffentlicht und war von 1924 bis 1962 der Herausgeber der Zeitschrift »Friedenswarte«, die von Alfred Hermann Fried begründet worden war.
Borgius erläutert im Abschnitt über Sprache seinen eigenen Werdegang und will das von ihm konstatierte »Scheitern der Weltsprachenbewegung« überwinden.
- Ich bin weder „Esperantist“, noch „ldist“ (Reform-Esperantist), noch sonst Vertreter einer der zahlreichen Weltsprachensysteme. Im Gegenteil: Nachdem ich eine Reihe von Jahren hindurch eifriger Mitarbeiter erst des „Esperanto“, dann des „Ido“ gewesen war, habe ich schließlich die Überzeugung gewonnen, daß es auf diese ın Wege nicht geht. Immerhin stehe ich deshalb nicht dcm Gedanken einer künstlichen Neutralsprache grundsätzlich ablehnend gegenüber, bin vielmehr geneigt, die bisherigen Mißerfolge der Weltsprachenbewegung lediglich bestimmten Fehlern zur Last zu legen, die mir in der Weltsprachenbewegung entgegengetreten sind. Ihr bisheriger Mißerfolg liegt meines Erachtens hauptsächlich an zwei Umständen:
Er betrachtet die bisherigen Projekte als »Dilettantenarbeit« und macht sich damit bei Esperantisten keine Freunde. Seine umfassende Kritik an Esperanto hatte er 1908 mit der Broschüre »Warum ich Esperanto verließ« veröffentlicht. Zuvor war er im Berliner Vorstand der Deutschen Esperantisten-Gesellschaft und trat zusammen mit weiter Vorstandmitgliedern wegen der »Reformunwilligkeit« der Deutschen Esperantisten zurück. Kurz zuvor hatte er noch in der Schrift »Das Weltsprache-Problem« die Vorzüge des Esperanto gerühmt.
Er fordert nun eine ernsthafte fachliche Herangehensweise von den Sprachwissenschaftlern, die sich mit wenigen (drei) Ausnahmen bisher nicht um das Problem gekümmert hätten. Zumindest einer der genannten (Jespersen) hat es 1928 mit Novial versucht, das recht hübsch aussieht.
- Zweitens aber hat die Sprachwissenschaft auf diesem wichtigen Gebiete bisher vollkommen versagt. Mit verschwindenden Ausnahmen vereinzelter Personen, die sich für die Bewegung interessierten [wie Schuchardt-Wien für das Volapük, Baudonin de Courtenay-Petersburg für das Esperanto, Jespersen~Kopenhagen für das Ido [Reform-Esperanto]]. haben die Sprachwissenschaftler aller Nationen dieser interessantesten Kulturerscheinung ihres Fachgebietes gegenüber nichts bezeigt, als den üblichen jede Berührung ablehnenden akademischen Dünkel gegenüber dem Nicht-Zunftgenossen, der an die Probleme der Zunftgelehrsamkeit zu rühren wagt, bzw., wo sie sich einmal mit der Frage befassen mußten, (wie z. B. Brugmann und Leskien auf Ansuchen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften) ihren Witz an einigen offenkundigen konkreten Mängeln gerieben, ohne dem Problem selbst irgendwie näher zu treten. [Ganz wie die Naturwissenschaftler gegenüber der Wünschelrute und dem Hypnotismus, die Techniker gegenüber der Luftschifffahrt) Hier wird der Völkerbund einzusetzen haben:
- Er muß aus den wissenschaftlichen Neuphilologen aller Länder einen Sonderausschuß einsetzen, der mit der Aufgabe betraut wird, die bisherigen zahlreichen Entwürfe einer Neutralsprache zu prüfen; festzustellen, was an ihnen Gemeinsames und Brauchbares ist, was für Mängel und Grundfehler sie aufweisen, und endlich an der Hand der bislang im Laufe der Jahrzehnte gemachten Erfahrungen und Ergebnisse die Grundlagen für eine einwandfreie Internationalsprache zu schaffen. Dies ist keineswegs so schwierig und aussichtslos, wie der Laie auf den ersten Blick meint, wenn man nur erst einmal auf wirklich systematischem Wege und mit dem notwendigen wissenschaftlichen Rüstzeug an die Arbeit herangeht.
Aber bis dahin kann man übergangsweise weitermachen…..
- Bis das Ziel erreicht ist, kann aber getrost das Esperanto oder Reform-Esperanto als provisoische Neutralsprache den Zwecken des Völkerbundes dienen