Borgius Weltsprache Problem

Das Weltsprache-Problem

von W. Borgius.

Broschüre in der Reihe »Kultur und Fortschritt« Nr. 102

Verlag Felix Dietrich, Leipzig, 1907

Dr. Walter Borgius hatte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst für Esperanto engagiert, aber dann mit seiner Schrift »Warum ich Esperanto verließ« kritisch auf den mangelnden Reformwillen reagiert. Er war, wie er dort angibt Vizepräsident der Ortsgruppe Berlin der Deutschen Esperanto-Gesellschaft. Seine Name findet sich in der Teilnehmerliste des Kongresses in Dresden von 1908.

Er befürwortete das »Reformesperanto« (IDO) und dieser Konflikt zog sich in Deutschland noch gut zwei Jahrzehnte hin. Allerdings sind von Borgius keine weiteren Stellungnahmen bekannt. Er ist vor allem wegen seiner schonungslosen Abrechnung mit dem Schulsystem »Die Schule, ein Frevel an der Jugend« aus dem Jahr 1930 (Verlag Radikaler Geist) bekannt, das 2009 wieder als ebook veröffentlicht wurde. Im Abschnitt »Fremdsprachen« geht er auch auf Plansprachen ein.

Obwohl er Geschäftsführer eines industrienahen Wirtschaftsverbands in Berlin war, veröffentlichte er zu Anarchismus und Sexualreform. Er war im Vorstand des »Bundes für Mutterschutz« und wohl mit vielen linken, pazifistischen und frauenbewegten Akteueren seiner Zeit persönlich bekannt.

Die Zeitschrift »Widersprüche« charakterisiert ihn 1999 wie folgt:

  • Walther Borgius, dessen Geburtsjahr nicht bekannt ist – er starb 1932 -, ist nur schwer in gängige Bilder und Vorstellungen einer politisch-pädagogischen Richtung des Anarchismus einzuordnen. Als Geschäftsführer und Syndikus eines Handelsvertragsvereins in Berlin führt er ein durchaus bürgerliches Leben, andererseits bringt ihn sein Engagement als Gesellschaftskritiker, Privatgelehrter und Publizist in Kontakt mit zahlreichen Menschen der damaligen sozialistischen Bewegung. Bereits kurz nach der Jahrhundertwende beschäftigt er sich mit der Theorie und Praxis des Anarchismus, publiziert hierzu und hat enge Verbindungen zu dem österreichischen Pazifisten und Anarchisten Pierre Ramus, für den er Übersetzungen besorgt und für dessen Zeitschrift er Artikel schreibt. In den zwanziger Jahren engagiert er sich darüber hinaus auch stark in der Sexualreformbewegung und bemüht sich um eine Reform der deutschen Rechtschreibung.

Auch von Pierre Ramus gibt es einen Aufruf »Lernt Esperanto!« aus dem Jahr 1907 (Die Freie Generation. Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus”, 2. Jahrgang, Nr. 5, November 1907.) in dem er schreibt: Esperanto ist die alltägliche, notwendige Praxis des Gedankenaustausches; Esperanto kann jener breite, sprachliche Strom werden, auf dessen Rücken sämtliche Kulturelemente der verschiedenen Nationen wechselseitig und internationalisierend nach den diversen heimatlichen Küsten und Gestaden gebracht werden können.

Hingegen rät Gustav Landauer zur selben Zeit ausdrücklich davon ab: Lernt nicht Esperanto! (1907): »Der Geist hat zwei schlimme Feinde, erstens, die Dummheit, und zweitens, den Verstand. Oft finden sie sich vereinigt in Form kluger Geistlosigkeit; die hat auch das Esperanto erfunden. « Die Freie Generation 2 (November 1907), H. 5, S. 147‒150.

Ramus hat in der Zeit vor dem Krieg die Zeitschrift »Wohlstand für alle« herausgegeben, ein Titel, der dann von Kliemke, später von Ludwig Erhard, verwendet wurde.


Das vielleicht bezeichnendste Unterscheidungsmerkmal unserer modernen Kultur ist ihre Internationalität. Sie ist nicht, wie in früheren Epochen die nationale Kultur eines führenden Voltes, welches durch seine Weltherrschaft den übrigen minder entwickelten Völkern den Stempel seiner Kultur aufprägt, sondern ein Produkt dauernden Hand in Hand arbeitens vieler gleich hoch entwickelter Völker.

Am deutlichsten tritt dies im Wirtschaftsleben zu Tage: Sind doch selbst die heutigen schutzzöllnerischen Absperrungstendenzen vieler Staaten nichts als ein Symptom dafür, daß in Wahrheit kein Land mehr wirtschaftlich ohne den Weltmarkt auskommcn kann, daß die hohe Qualität und Billigkeit der heutigen Produktion und Konsumtion nur möglich ist auf Grund weitgehender internationaler Arbeitsteilung. Und nicht nur die ca. 60 Milliarden des jährlichen internationalen Warenverkehrs kommen in Betracht, sondern die Kapitalsanlagen, die Fracht- und Transportverhältnisse, das Versicherungswesen, der Bank-, Börsen- und Geldmarkt, die Ein- und Auswanderung, alles das ist heute international, wie u.a. die wachsende Zahl der internationalen wirtschaftlichen Kongresse, ja der ständigen internationalen Organisationen bestimmter Erwerbszweige und Interessengruppen zeigt.

Das gleiche gilt für das Geistesleben. Kein Gelehrter kann heute mehr erfolgreich schaffen, ohne ständig die Mitarbeit des Auslandes zu verfolgen und ihre Fortschritte zu verwerten. Nirgends stände die nationale Wissenschaft auf ihrer heutigen Höhe, wenn nicht die Erfindungen und Entdeckungen, die Experimente und Gedanken ausländischer Forscher befruchtend auf sie zurückgewirkt hätten. Und in der Kunst ist zwar das Schaffen des Künstlers in gewisser Hinsicht nationalen Charakters. Aber der Konsum , der Kunstmarkt ist vollkommen international: In unseren Theatern und Konzertsälen hören wir die Dramatiker und Komponisten aller Länder; in unseren Museen finden wir die Plastiken und Gemälde aller Kulturvölker; in unseren Bibliotheken stehen die Werke aller Rassen.

Auf internationalen Beziehungen baut sich ferner das ganze Gebiet der Politik auf: Mehr als je sind heute die verschiedensten Gebiete des öffentlichen Lebens durch Staatsverträge geregelt und den Maßnahmen und Kontrollen der Diplomatie unterworfen. Immer häufiger werden gemeinsame Unternehmungen verschiedener Staaten und internationale Konferenzen der Negierungen zur Erörterung gemeinsamer Interessen. Ja selbst die Nationalpolitik par-exellence, das Kriegswesen, wird zunehmend paralysiert durch die internationale Praxis der Friedensbewegung, der Genfer Konvention, der Schiedsgerichte.

Auch im Rechtsleben, wenn schon dieses eigentlich mit dem Begriff der staatlichen (also nationalen) Zwangsgewalt steht und fällt, zeigt sich wachsendes Streben zu internationaler Vereinheitlichung der Bestimmungen, zu internationalen Verträgen über wichtige Sondergebiete, zur Erleichterung und Sicherung der internationalen Nechtsverfolgung und Nechtshilfe.

Im Gegensatz zu dem ausgesprochen nationalen Charakter, welchen der Gottesbegriff in der antiken Welt hatte, haben ferner die Religionen der höheren Kulturvölker — die christlichen Konfessionen ebenso wie Buddhismus und Mohammedanismus — den nationalen Charakter vollständig abgestreift. Gleichermaßen die außerhalb des engeren Begriffs der „Religion” stehenden Weltanschauungen: Freidenkertum und Monismus, ethische Kultur, Spiritismus und Okkultismus. International ist ihr Geltungsbereich, und daher auch ihre Organisation, ihre Propaganda, ihre Missionsarbeit.

Wachsende Internationalität zeigt endlich der Reiseverkehr, der sich ohnehin auf immer weitere Schichten des Volkes erstreckt. Während noch vor kurzer Zeit höchstens die Schweiz und Italien als Gebiete internationalen Reiseverkehrs gelten konnten, sind neuerdings Schweden und Norwegen, die Karpaten und die bosnischen Wälder, das Mittelmeer und die Levante, die Pyrenäen und das schottische Hochland, die holländischen, französischen und dänischen Seebäder dem internationalen Reisepublikum erschlossen, — eine Entwickelung, die noch lange nicht zum Abschluß gelaugt ist.

Diese unzweifelhafte Entwickelungstendenz unserer Kultur stößt nun auf ein wenn auch nicht gerade unübersteigbares, so immerhin doch als recht lästig empfundenes Hindernis: die Vielsprachigkeit der Völker. Für das Altertum kam diese Schwierigkeit kaum in Betracht. Seine „Internationalitäl” bedeutete Hegemonie eines Volkes über den jeweilig bekannten Teil der Welt, und mit den Völkern der Weltherrschaft löste sich daher auch die „Weltsprache” ab. So beherrschte im zweiten Jahrtausend vor Christus die babylonische Sprache und Schrift den ganzen Orient. Ihr folgte die persische, dieser die griechische Sprache. Dann erstand die Weltherrschaft Roms und damit der lateinischen Sprache, wenigstens für den jetzt nach Westen verschobenen Kulturkreis, (wobei sich freilich im Osten die griechische Kultur erhielt, soweit sie nicht durch die Flut des Islams fortgeschwemmt wurde). Und unter ihrem Einfluß steht heute noch das kultivierte Europa von der russischen Grenze bis zum Atlantic, zumal sowohl die „Römisch-katholische Kirche”, wie das, das Erbe der Weltherrschaft antreteude „Heilige Römische Reich deutscher Nation” den Zusammenhang mit Nom auch sprachlich großenteils aufrecht erhielt. Romanischen Charakters oder wenigstens mit zahllosen romanischen Lehn- und Fremdwörtern durchsetzt sind sämtliche europäischen Sprachen, und die Pflanzstätten unserer Bildung sind bis zum heutigen Tage Lateinschulen.

Als die einheitlichen beiden Mächte des Weltreichs und der Weltkirche sich zersetzten und an ihrer Stelle die Landesterritorien zu Trägern der Kultur wurden, erlosch der Begriff einer vorherrschenden Weltsprache. Zwar behielt anfangs das Italienische den Vorrang, bald aber — namentlich durch die Überseeherrschaft — trat daneben das Spanische. Dann kam das siegesgewisse fortschreitende Frankreich in die Höhe und brachte mit der Blüte der Geisteskultur des 18. Jahrhunderts der französischen Sprache den mindestens gleichen Rang, der in der Epoche Ludwigs XIV. und Napoleons I. sogar zum Vorrang wurde. Aber nach des letzteren Fall emanzipierten sich die Völker wieder von der zeitweiligen Hegemonie französischen Geistes. Und nun traten auch die germanischen Sprachen und Kulturen in den Vordergrund, namentlich die englische, die mit der staunenerregenden Entwickelung Großbritanniens in der Technik, der Großindustrie und dem Überseehandel ihre Rivalen schnell überholte. Neuestens ist durch das politische und wirtschaftliche Hochkommen des Deutschen Reiches auch die deutsche Sprache zu beachtenswerter Stellung emporgewachsen.

Aber sichtlich geht die Tendenz der Entwicklung dahin, das Bild noch bunter zu machen. Man erwäge die steigende Bedeutung, die — wirtschaftlich, politisch und kulturell — heute schon Rußland gewonnen hat und mit fortschreitender innerer Demokratisierung und Konsolidierung noch vergrößern wird. Man beachte, wie nicht nur in der Politik, sondern stärker noch in Kunst, Wissenschaft und Literatur immer wieder neue, vor kurzem noch ganz unbeachtete Völker emporkommen: die Skandinavier, die Ungarn, die Tschechen, die Japaner. Und man wird sich der Überzeugung nicht verschließen können, daß die Vielsprachigkeit der Kulturwelt nicht in der Abnahme, sondern im Wachsen begriffen ist.

So ist denn gegenwärtig die Kultur der Welt zwar einheitlicher und internationaler, gleichzeitig aber ihr Hauptverbindungsmittel zerrissener und vielfältiger als je, — ein auf die Dauer unerträglicher Widerspruch. Schon heute, welche Kalamität, daß der gebildete Deutsche mindestens englisch und französisch, der Bürger anderer Staaten außer seiner Muttersprache sogar alle drei Sprachen, lernen muß, um den Anforderungen des Lebens genügen zu können! Und wie unvollkommen ist dies dabei doch der Fall! Man braucht nur einmal einen internationalen Kongreß mitgemacht zu haben, um sich zu überzeugen, wie hilflos selbst der klügste Geist dort der Aufgabe internationaler Verständigung meist gegenübersteht, ja, wie gering heute Wert und Wirkung internationaler Kongresse und Konferenzen gerade deshalb ist, weil es einem in seinem Berufe tüchtiges leistenden Mann kaum möglich ist, daneben auch noch zwei oder drei fremde Sprachen so beherrschen zu lernen, daß sie ihm in Rede und Schrift keinerlei Schwierigkeiten machen. Vollends ist die Entwicklung internationaler Organisationen und internationaler Zeitschriften sehen, warum nicht das, was bisher dank der Vielsprachigkeit derart rückständig, das; sie den Anforderungen der Praxis in keiner Weise entspricht.

Unter diesen Umständen ist denn immer wieder und immer dringlicher das Ideal einer allgemeinen Weltsprache aufgetaucht, die als einzige fremde Sprache außer der Muttersprache in sämtlichen (auch den elementaren) Schulen aller Völker gelehrt würde, sodaß eine einheitliche sprachliche Grundlage für den internationalen Verkehr vorhanden wäre. Der Wert, ja die Notwendigkeit einer solchen Weltsprache dürfte niemand zweifelhaft sein. Nur die Frage der praktischen Durchführung des Planes ist nicht so einfach zu beantworten.

Am nächsten erscheint ja der Ausweg, daß man einfach eine der lebenden Sprachen durch einen Akt internationaler Verständigung zur Weltsprache erklärt. Aber welche? —

Es liegt nahe zu antworten: Diejenige, welche ohnehin bereits am verbreitetsten auf der Welt ist. Dies ist nun aber unglücklicherweise das chinesische Idiom, das von mehr als 400 Millionen gesprochen wird. Am nächsten kommt ihm die Hindu spräche mit 140 Millionen und danach vermutlich die türkische, die in ihren verschiedenen Dialekten von der chinesischen Grenze bis zum Balkan herrscht. Erst dann kommen die europäischen Sprachen, an deren Spitze Wohl englisch mit etwa 135 Millionen steht, falls nicht die russische Sprache ihr noch vorgeht, über deren Verbreitung zuverlässige Ziffern nicht vorliegen. Spanisch dürfte — zusammen mit portugiesisch, das ja eigentlich nur ein spanischer Dialekt ist, — insgesamt etwa von 95 Millionen gesprochen werden, französisch und deutsch je von etwa 80 Millionen, während das Italienische heute nur noch etwa 35 Millionen umfaßt.

Die ziffernmäßige Verteilung der Sprachen ist aber auch deshalb ein schlechter Wertmaßstab, weil sie sich dauernd und verhältnismäßig schnell ändert, d. h. mit der verschiedenen politischen und kommerziellen Expansion des betreffenden Volkes steigt und fällt. Die Ziffern, die heute etwa für die Wahl einer Sprache zur „Weltsprache” den Ausschlag geben würden, können also in wenigen Jahrzehnten schon vollständig antiquiert sein. Und die Nolle speziell des Englischen als Weltsprache im engeren Sinne (d. h. als Verständigungssprache zwischen Nicht-Engländern verschiedener Nationalität) ist denn doch eine recht bescheidene: Es herrscht fast nur da, wo englischer Schiffsverkehr oder englische Siedlung der Kultur überhaupt einen englischen Stempel aufdrückt, also abgesehen von den englischen Kolonialgebieten hauptsächlich in den großen Hafen- und Handelsplätzen des Weltmarktes. Sobald man aus diesen in das Innere des Landes hineinkommt, verliert sich ihre Herrschaft. So bildet in ganz Süd-Amerika das Spanische und Portugiesische, im Orient und der Levante das Französische und Portugiesische, im Orient und auch das Deutsche, im inneren Asien vielfach das Russische die internationale Verständigungssprache.

Vor allem aber sind die lebenden Sprachen ohne Ausnahme viel zu schwer erlernbar. Deutsch und russisch, sowie die asiatischen Sprachen scheiden unter diesem Gesichtspunkte von vornherein aus. Das Englische leidet an der außerordentlichen Schwierigkeit der Aussprache, zu welcher ein spezifisch angelsächsisches Sprachwerkzeug gehört; ihre Korrektheit ist schon für gebildete Inländer häufig genug Gegenstand der Meinungsverschiedenheit, für den Ausländer überhaupt kaum erreichbar und jedenfalls schwieriger, als die aller anderen Kultursprachen zusammen. Daneben wird die Erlernung erschwert durch die unglaublich regellose Orthographie, die selbst für Einheimische schwer mit Sicherheit erlernbar ist. Das Französische vermeidet zwar diese Hindernisse eher, wenngleich seine Aussprache auch für viele Nichtromanen große Schwierigkeiten hat; dafür bietet aber Grammatik und Stil dem Ausländer eine schwer überwindliche Aufgabe; ist doch z. B. berechnet worden, daß seine unregelmäßigen Verben insgesamt 2265 verschiedene Endungen aufweisen! — Durchgängig fordern alle lebenden Sprachen von dem Lernenden wegen der großen Kompliziertheit und Unübersichtlichkeit ihres nur aus der historischen Entwickelung heraus zu erklärenden Aufbaues viel zu große Opfer an Zeit und Mühe, um als Weltsprache in Betracht zu kommen. Denn Vorbedingung einer solchen ist, daß sie auch dem nur mit Elementarkenntnissen Versehenen innerhalb kurzer Zeit ohne fühlbare Belastung seines Bildungsganges und — Geldbeutels erlernbar ist.

Dazu kommt aber, daß die Rivalität der Nationen es nie und nimmer gestatten würde, daß überhaupt eine lebende Sprache zum offiziellen internationalen Verständigungsmittel gemacht wird. Denn die Sprache ist auch ein Macht mittel der Staaten, ist Waffe und Werkzeug der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Erpansion der Völker. Das Volk, dessen Muttersprache durch einen internationalen Akt -um allgemeinen internationalen Verständigungsnüttel erklärt würde, gewönne dadurch solchen Vorsprung vor den anderen, ein derartiges politisches, wirtschaftliches und kulturelles Übergewicht, das; nur ein Staat, welcher von vornherein auf eine führende Stellung auf allen Gebieten der Kultur verzichtet, solchem Akte zustimmen und zu seiner Durchführung die Hand bieten könnte. Und gerade dem englischen Volke, dessen Sprache vielleicht am ehesten gewählt werden würde, dürften seine großen Rivalen vorn europäischen Kontinent am allerletzten eine solche Präponderanz für alle Zukunft der menschlichen Kultur zugestehen wollen und dürfen.

Es ist nun weiter die Frage aufgeworfen worden, ob nicht eine tote Sprache den gewünschten Dienst leisten könne. Am nächsten läge das Lateinische, das ja im Mittelalter bereits die Funktion einer internationalen Gelehrtensprache hatte. Es liegt aber auf der Hand, das; eine Sprache in ihrem ganzen Aufbau und Wortschatz der Kultur angcpaßt sein muß, der sie als Verständigungsmittel dienen soll; und darum — ganz abgesehen von ihrer auch sehr schwierigen Erlernbarkeit — dürfte es sich schwerlich als möglich erweisen, die lateinische Sprache zu einem schmiegsamen und anpassungsfähigen Verständigungsmittel zwischen Angehörigen unserer modernen westeuropäischen Kultur zu gestalten. Man denke nur, welche Anforderungen an Präzision und Ausdrucksfähigkeit etwa das Gebiet der modernen Technik, Kunst usw. verlangt. Es ist daher erklärlich, daß eine von dem französischen Sprachgelehrten Jean René Aubert unlängst an ca. 100 Fachkollegen in verschiedenen Ländern erlassene Umfrage hierüber von allen Befragten, auch von den Altphilologen, rundweg ablehnend beantwortet wurde.

Es fragt sich jedoch, ob sich die lateinische Sprache nicht derartig modernisieren ließe, daß sie den Anforderungen der Gegenwart Genüge leistet. Diese Idee ist wiederholentlich aufgetaucht und eine ganze Reihe von geistreichen Köpfen hat sich mit Versuchen zu ihrer Durchführung beschäftigt. Diesen Bestrebungen entsprang die „Iangue internationale néolatine” von Courtonnes (1883), Eugen Laudas „Kosmos” (1888) und Dr. Roses „Nov Latim (1890), Beermanns „Novilatin” (1805), Puchners „Nuove Roman” (1807), Fröhlichs „Reformlatein” (1902), Prof. G. Peanos „Iatine sine flexione” u.a.m. Indessen kann man alle diese Versuche, so überaus geschickt sie sprachtechnisch großenteils durchgeführt sind, nicht als eine zureichende Lösung des Problems anerkennen, wie es denn auch keine von ihnen nur zu Ansätzen einer praktischen Verwendung im größeren Kreise gebracht hat. Der Gedanke eines modernisierten Neulateins dürfte vielmehr im Gegenteil durch diese Versuche als utopisch bewiesen sein.

Nun läge noch eine dritte Möglichkeit vor. Man könnte sich der Erwartung hingeben, daß vielleicht im Laufe der Zeit eine allmähliche Verschmelzung der Hauptkultursprachen vor sich gehen würde, daß also etwa ebenso wie im Orient aus dem Französischen und dem einheimischen Dialekte die sogenannte „lingua franca”. oder in Ostasien das „Pidgen-English”, in Amerika das „Chinook”, das „Deutsch-Amerikanisch”, das „Yiddish”, entstanden ist, einmal auch eine slavo-germanisch-romanische Mischsprache sich herausbilden könnte.

Diesen Gedanken führt u. a. der spanische Marmearzt in Chile, Dr. Liptay (Eine Gemeinsprache der Kulturvölker, 1891, Brockhaus, Leipzig), näher aus: Er erblickt die Grundlage zu einer solchen Gemeinsprache („Lengua Catolica”) in den mehr oder weniger allen gebildeten Kultursprachen gemeinsamen, meist romanischen Fremdwörtern, deren z.B. die deutsche Sprache nach Kaltschmidt 70.000, nach Heyse 90.000 zähle, während das Englische mit seinem allmählich aufgenommenen Wortschätze von 70 % romanischer Elemente schon geradezu eine Mischsprache darstelle. Man solle nur anerkennen, „daß diese so verhaßten Fremdwörter …. ein Gemeingut aller Kulturvölker und die Brücke sind, die den unmittelbaren geistigen Verkehr zwischen den Deutschen und ihren Nachbarn ringsum ermöglicht, daß diese Eindringlinge berufen sind, die Assimilation zwischen Germanen und Nomanen anzubahnen, und daß deren Ausrottung …. der Aufführung eines Walles gleichkommt, der an Undurchdringlichkeit die berühmte Mauer Chinas weit hinter sich läßt”. Es gelte daher lediglich, auch für die Begriffe mit noch nationalsprachlicher Benennung „Weltwörter” nach Analogie der Fremdwörter aufzustellen, resp. die Ansätze dazu aus dem vorhandenen Sprachmaterial richtig herauszufinden, und dann eine einfache Grammatik dazu zu fügen, so wäre die natürliche Weltsprache der Zukunft sertiggestellt.

Hiergegen ist zweierlei geltend zu machen: Zunächst übersieht Liptay den leidigen Umstand, daß der weitaus grösste Teil jener Fremdwörter seltene Fachausdrücke sind, während die Sprache des nüchternen Alltagslebens verhältnismäßig fremdwortrein ist. Zweitens beurteilt er die Entwickelung falsch. So notwendig und berechtigt das Fremdwort ist, zu seiner dauernden Aufnahme als „Lehnwort” gehören noch bestimmte Voraussetzungen, die seine Anpassung an Ton und Rhythmus, Flexion usw. der Gastsprache ermöglichen. Diese nun erfüllt nur ein Bruchteil der gebrauchten Fremdworte. Die andern aber werden erfahrungsgemäß im Laufe der Jahrzehnte von der Sprache wieder ausgeschieden und durch einen national-sprachlichen Ausdruck ersetzt.

Vollständige Mischsprachen aber sind stets nur eine Begleiterscheinung vorausgegangener Völkermischung und nur auf dieser Basis lebensfähig. Die Entstehung einer Welt-Mischsprache setzte also eine allgemeine Völker- und Rassenmischung voraus, die nicht nur unwahrscheinlich ist, sondern auch bestenfalls erst im Laufe langer Jahrhunderte eintreten könnte, womit uns nicht geholfen ist. Liptaps Versuche zur Vorauskonstruktion der Mischsprache sind denn auch ergebnislos geblieben.

Es ergibt sich also: Wenn das Bedürfnis nach einem internationalen Verständigungsmittel überhaupt befriedigt werden kann, so kann dies nur geschehen durch eine ad hoc zu konstruierende neue künstliche Neutralspräche.

Dieser Gedankeerscheint zunächst absurd. Man hat sich gewöhnt. die Sprache als etwas gewissermaßen organisch Gewachsenes zu betrachten, dessen künstliche Herstellung eine Unmöglichkeit bedeute. Indessen ist es mit dem angeblich organischen Charakter der lebenden Sprachen eine eigene Sache: Die Sprache ist ja lediglich eine bestimmte Form interpersonaler Verständigung, genau so, wie andere diesem Zwecke dienende Formen, also etwa die Verständigung durch Gesten oder Bilder. Die Schöpfung geeigneter Formen und Ausdrücke ist aber ein individueller Vorgang; sozial wird er erst nachträglich durch Adoption, dieser seitens eines größeren Kreises.

Es ist daher nicht einzusehen, warum nicht das, was faktisch einige Hunderte oder Tausende Personen im Laufe längerer Zeiten geleistet haben, grundsätzlich ebensogut von einem Einzelnen innerhalb kurzer Zeit geleistet werden können soll. Wird diese Schöpfung alsdann von einem größeren Kreise adoptiert, so ist damit eben eine neue Sprache gegeben.

Die gleichen Bedenken hätten sich ja auch gegen die Schöpfung anderer künstlicher Verständigungsmittel, wie z. B. die stenographische Kurzschrift als (teilweisen) Ersatz der organisch entwickelten Kurrentschrift, das Dezimalsystem in Maß, Münze und Gewicht, das Morse-Alphabet, den Telegraphen-Code, die Flaggensignale der Seeschiffe, die internationale Noten- und Ziffernschrift u.a.m. einwenden lassen. Das alles sind individuell erdachte, durch Konvention international bzw. allgemein gewordene Verständigungsmittel. — Im übrigen hat die Praxis bereits unwiderleglich die Möglichkeit erwiesen, eine Kunstsprache zu schaffen, die allen Bedürfnissen einer lebenden Sprache entspricht: In Esperanto z.B. verständigen sich heute bereits Hunderttausende von Personen verschiedenster Nationalität mündlich und brieflich miteinander und konsumieren die Lektüre von mehr als 20 verschiedenen Zeitschriften und von bereits Hunderten von Literaturwerken. Und ähnlich früher in Volapük.

Indessen läßt sich der gemachte Einwand dahin erweitern: Selbst wenn eine brauchbare Kunstsprache erschaffbar ist, kann sie aus die Dauer nicht lebensfähig sein, weil jede Sprache sich weiter entwickeln, also verändern muß, und überdies die nationalen Eigentümlichkeiten in Aussprache und Stil allmählich aus der Ursprache wieder eine Anzahl verschiedener Nationalsprachen machen würden, wie aus der einen römischen Sprache die verschiedenen romanischen Sprachen entstanden seien.

Die Entwickelung einer Sprache ist nun eine dreifache. Zunächst eine grammatikalische; und zwar in der Richtung zu immer weitergehender Vereinfachung der grammatikalischen Formen wie der Satzbildung. Da aber eine Kunstsprache begreiflicherweise von vornherein auf einer dermaßen vereinfachten Grammatik aufgebaut wird, daß deren weitere Vereinfachung unmöglich ist, so scheidet Wohl dieses Moment vollkommen aus.

——————– Der Text stammt aus einem Scan der Österreichischen Nationalbibliothek. Für die Konversion der Frakturschrift (OCR) wurde eine Probeversion der Software ABBYY Finereader eingesetzt, die allerdings nur 10 Seiten (ungefähr die Hälfte des Materials) pro Monat erlaubt.

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