Bücher spielten beim diesjährigen Zamenhoffest des Esperanto-Verbandes Berlin-Brandenburg am 15. Dezember 2018 eine wichtige Rolle. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen natürlich unsere Gäste aus Kaliningrad – das Verlegerpaar Alexander Korjenkov (geb. 1958) und Halina Gorecka (geb. 1959) . Ihr neuestes historiografisches Werk „Nia diligenta kolegaro“ – eine Auswahl von 200 Biografien bedeutender Esperantisten – präsentierten sie mit allen Facetten von der Auswahl der Fakten über das Erzählen von Hintergrundanekdoten bis zur Statistik.
Auf ein kürzlich im New Yorker Verlag Mondial erschienenes esperantosprachiges Geschichtswerk habe ich im Diskussionsteil aufmerksam gemacht – auf die Festschrift „En la mondon venis nova lingvo“ – „In die Welt kam eine neue Sprache“, gewidmet dem Historiker und Japanologen Dr. Ulrich Lins (geb. 1943), weil er in besonderem Maße dazu beigetragen hat, die bunte und differenzierte Geschichte der Esperanto-Sprachgemeinschaft und ihrer Kultur zu erforschen und bekanntzumachen.
Wer weiß, wie sehr das Leben von Lins mit Japan verbunden ist – 30 Jahre arbeitete er für den Deutschen Akademischen Austauschdienst – DAAD (1978-2008) und leitete das DAAD-Büro in Tokio 1978-1983 und 1999-2004 – den verwundert es nicht, dass neben dem chilenischen Arzt und Epidemiologen Dr. José Antonio Vergara (geb. 1962) zwei japanische Professoren die Herausgeber dieser Festschrift sind – der Sprachwissenschaftler Prof. Hitosi Gotoo (geb. 1955) und der Professor für deutsche und europäische Studien an der Sophia-Universität in Tokio Goro Christoph Kimura (geb. 1974).
Hitosi Gotoo erzählt in seiner Einführung, wie es bei Lins zu der Verbindung seiner großen Leidenschaften Japan, Esperanto und Geschichte kam. Wie aus einer Brieffreundschaft des 14-jährigen Ulrich mit einer Japanerin seine Familie mit zwei Kindern entstand, ist so interessant, wie die Entdeckung in Deutschland damals nicht zugänglicher Dokumente durch Ulrich Lins in Japan, die zur Herausgabe seines Hauptwerkes „Die gefährliche Sprache“ führte, in dem er vor allem die Verfolgung von Esperanto-Sprechern und die Reaktion der Esperanto-Verbände darauf ohne Tabus beschreibt.
1973 in Kioto in Esperanto herausgegeben, erlebte es erweiterte Auflagen (1988, 1990, 2016) und die Veröffentlichung von Übersetzungen ins Englische, Deutsche, Italienische, Japanische, Koreanische, Litauische und Russische.
Viele der 31 Autoren aus 18 Ländern, die Beiträge für die Festschrift verfassten, knüpfen an dieses Buch an.
Der in Rotterdam lebende Soziolinguist kroatischer Herkunft Nikola Rašić (geb. 1957), untersucht beispielsweise in seinem Beitrag „Wirklich eine gefährliche Sprache? – Ulrich Lins und die Geschichte der Zukunft“, wer warum Esperantisten verfolgte und unter welchen Bedingungen das, was Lins als Geschichte beschreibt womöglich ein Szenario für die Zukunft werden könnte.
Über Lins schreibt er: „Ulrich Lins …. war einmalig als Deutscher mit Kenntnissen über Japan und esperantistischem Hintergrund. Durch diese drei Prismen sah er aus drei Perspektiven. Lins‘ Beschäftigung mit Geschichte war dreidimensional.“
Esperanto-Sprechern, die einen modernen experimentierfreudigen Sprachstil mögen, wird dieser Beitrag sprachlich sehr gefallen.
Wer mehr den klassischen Esperanto-Sprachstil – klar, logisch und treffend – mag, dem sei der Beitrag von Bernhard Tuider (geb. 1980) über die Beziehungen zwischen Friedens- und Esperantobewegung und die beiden Protagonisten Alfred Hermann Fried (1864-1921) und Gaston Moch (1859-1935) empfohlen. Tuider ist Historiker und leitet als Bibliothekar das Team, das die Plansprachensammlung und das Esperanto-Museum der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien betreut.
Ein anderer Esperanto-Historiker, der spanische Physiker José Antonio del Barrio (geb. 1961) knüpft mit seinem Beitrag „Auf der Suche nach dem Koffer von Mangada“ an Veröffentlichungen von Lins über den Spanischen Bürgerkrieg an. Del Barrio erklärt: „Ulrich Lins war es, der als erster systematisch zur Verwendung des Esperanto im Spanischen Bürgerkrieg gearbeitet hat. So regte er spanische Esperantisten dazu an, selbst zu dieser Periode zu forschen, die die bedeutendste in den letzten Jahrzehnten des Landes ist.“ Del Barrio gelang mit dem Hinweis auf seine Arbeit an dem Beitrag für diese Festschrift der Zugang zu sonst der Öffentlichkeit verschlossenen Teilen des „Dokumentationszentrums der historischen Erinnerung“ in Salamanca.
Das japanische Mitglied der Esperanto-Akademie Hiroyuki Usui (geb. 1967) bekennt, dass, nachdem er „1998 in Abendkursen den Magister erwarb“, Ulrich Lins für ihn „nicht nur ein Esperanto-Freund, sondern auch Vorgänger auf historiografischem Gebiet wurde.“ Auch er setzt mit seinem Beitrag „Esperanto für Ikki Kita: Nur ein Paradoxon eines paradoxen Menschen?“ Untersuchungen von Ulrich Lins fort. „Die japanischen „grünen Nationalisten“ (Esperanto-Nationalisten – Erläuterung des Autors) sind quasi ein gemeinsames Steckenpferd von Ulrich Lins … und mir.“ bemerkt er und ist sich bewusst, dass seine Thesen diskutierenswert sind.
Einiges in dieser Festschrift regt zur Diskussion und zu weiteren Forschungen an und ergänzt sich manchmal auch gegenseitig. Wenn der italienische Mathematiker und Wörterbuchautor Carlo Minnaja (geb. 1940) 19 deutschsprachige Mitglieder des Sprachkomitees bzw. der Esperanto-Akademie (bis 1948 – Jahr der Wiedergründung) aufführt und von nur drei japanischen Mitgliedern berichten kann, wird deutlich, warum Osamu Isiga (1910-1994) mit seinem Artikel in der Revuo Orienta, der Zeitschrift des Japanischen Esperanto-Instituts „‘Orienta Esperanto‘ – Ĉu ne indas rekoncepti Esperanton laŭ ‚orientula vidpunkto‘?“ (Ein „Esperanto des Ostens“ – Lohnt es nicht, Esperanto nach dem „Gesichtspunkt der im Osten Lebenden“ noch einmal zu konzipieren?“ 1942 eine Diskussion auslöste, die inzwischen als „Isiga-Disput“ bezeichnet wird.
Kimura, der Autor des Beitrags, bezeichnet das Vermächtnis des christlichen Esperantisten Isiga als aktuell, sowohl was den gerechten Gebrauch der Sprache angeht, als auch was das Engagement für den Frieden (Isiga war Kriegsgegner) und die Bedeutung von Übersetzungen für die interkulturelle Verständigung betrifft (Isiga übersetzte Selma Lagerlöf aus dem Schwedischen).
„Die ganze Welt in einem Koffer“ – der legendäre Vortrag von Ludwig Schödl (1909-1997), dem Schuldirektor aus Neuruppin, der 1967 das erste Esperanto-Lehrbuch in der DDR veröffentlichte, entstand noch unter den Bedingungen des Esperanto-Organisations- und Publikationsverbots (1949-1961), das er nicht befolgte und für dessen Aufhebung er arbeitete. Auch Briefe aus Japan enthielt der Koffer des Esperantisten aus der Region Berlin-Brandenburg, dessen Leben ich auf der Grundlage seines Nachlasses im Bundesarchiv (SAPMO) und meines Videointerviews mit ihm in dem Festschriftbeitrag „Der Mutige aus Neuruppin …“ erstmalig so detailliert beschreibe.
Vielleicht wecken diese wenigen Bemerkungen über das Buch die Neugier.
Es ist online bestellbar, z.B. beim Bücherdienst des Deutschen Esperanto-Bundes e.V.
Fritz Wollenberg (Text und Fotos)