Eine amüsante Kurzgeschichte aus dem Berlin der Kaiserzeit
Gefunden in Berliner Leben : Zeitschrift für Schönheit und Kunst, 1909, Seite 18 bis 21
Es gibt 12 Jahrgänge dieser Zeitschrift, die von der Landesbibliothek Berlin digitalisiert wurden.
Mabel Sanders amüsierte sich köstlich.
Sie hatte nicht erwartet, dass ihr Aufenthalt hier in Deutschland so abwechselungsreich und unterhaltend werden würde.
Da es in Amerika momentan nun einmal zum guten Ton gehörte, ein Jahr in Deutschland, in Berlin, Dresden oder Leipzig, Musik zu studieren, so war Mabel denn Anfang Oktober nach Berlin gegangen, in die von Bekannten warm empfohlene Pension der Frau Professor Neumann.
Sie nahm in einem Konservatorium technischen und theoretischen Klavierunterricht, übte zu Hause einige Stunden, behielt aber immer noch genügend Zeit, sich Berlin gründlich anzusehen und sich, wie bereits gesagt, köstlich zu amüsieren.
Frau Professor Neumann hatte eine reizende Art, die jungen Ausländerinnen, die nach deutschen, gut bürgerlichen Begriffen etwas frei erzogen waren, unter ihre Fittiche zu nehmen. Sie begrüsste alle Herrenbekanntschaften, die ihr unter dem Titel „Freund“ oder „Vetter“ zugeführt wurden, sehr liebenswürdig bei sich, lud sie ein, und gab dadurch all diesen Bekanntschaften einen soliden, häuslichen Hintergrund.
Keine der jungen Damen hatte nötig, ihren Freunden auf der Strasse Rendez-vous zu geben, nein, sie kamen einfach zu Frau Professor in die Pension, die sie freundlich zur Teestunde einlud, oder einen Konzertbesuch vorschlug.
Sie selbst hatte einige Zimmer an junge Ausländer vermietet, die im Pensionat bei den gemeinsamen Mahlzeiten Deutsch zu lernen hofften, aber mehr Französisch, Englisch und Italienisch zu hören bekamen, als die Landessprache.
Neben Mabel Sanders sass bei Tisch ein junger Russe, der sich zum Studium der Physik in Berlin aufhielt. Er hatte sich auf den ersten Blick in seine hübsche Nachbarin verliebt, die mit ihrem rosigen Teint im Kontrast zu den dunklen Haaren gerade sein Genre war, — und gab sich nun jeden Tag die erdenklichste Mühe, sie zu unterhalten. Er radebrechte ein entsetzliches Deutsch, und da Mabel in den 3 Wochen ihres Aufenthaltes auch noch nicht sehr viel gelernt hatte, so kamen die Beiden nie über die üblichen Erörterungen: „Wie geht es Ihnen?“ „Danke gut!“ und über die Erledigung der Wetterfrage hinaus. Mabel wusste ausser ganz genau, dass sie nie weiter kommen würden in der Unterhaltung, denn sie konnte den Russen nun einmal nicht leiden, und bemühte sich garnicht, seine verzweifelten Anstrengungen, ein Gespräch in Gang zu bringen, zu unterstützen. Er gefiel ihr absolut nicht mit seinen schläfrigen Augen, seinen langsamen Bewegungen und dem vernachlässigten, unsauberen Anzug.
Ein weit grösseres Interesse gewann der jungen Amerikanerin ihr vis-à-vis ab, ein rumänischer Leutnant, ein flotter, bildhübscher, liebenswürdiger Mensch mit funkelnden Spitzbubenaugen.
Leider konnte dieser noch weniger deutsch, um so beredter aber war die Sprache seiner galanten Höflichkeiten, mit denen er Mabel auszeichnete. Sehr sonderbar traf es sich fast jeden Tag, dass er gerade zur selben Zeit zum Dienst musste, wenn die junge Dame ihre Schritte nach dem Konservatorium lenkte, und obgleich beide sich nur schlecht verständlich machen konnten, hatte er doch bald heraus, dass Mabel Blumen sehr liebte und sich gern von ihm welche schenken liess. Da beide grosse Verehrer des Schlittschuhsportes waren, trafen sie sich jeden Nachmittag im Eispalast, und wenn auch das Gespräch, der mangelnden Sprachkenntnis wegen, oft stockte, unterhielten sie sich doch immer brillant miteinander.
Eines Tages brachte Severin Poigna, so hiess der junge Rumäne, mit strahlendem Lächeln zwei Opernhausbillets mit, und verkündete Mabe! freudig, dass beider Lieblingskomponist „Wagner“ zu Gehör kommen sollte mit seinem Lohengrin.
Zu dieser feierlichen Gelegenheit schmückte Mabel sich mit besonderer Sorgfalt, und sie hatte denn auch die Genugtuung, dass sie in ihrem chicken, tadellos sitzenden Spitzenkleide, — das in weichen Wellen über rosa Seide rieselte und durch einen grossen Ausschnitt den vollen, blendend weissen Hals freigab, — unter den Damen des Parketts Aufsehen erregte. Bald aber vergass sie diese Äusserlichkeiten ganz und gar, denn die Ouvertüre begann.
Glückselig sassen die beiden Menschenkinder nebeneinander und lauschten den herrlichen Melodien. In ihnen sang und klang es mit. Eine überschäumende Begeisterung riss sie hin und jeder gab dieser Wonne in seiner eigenen Sprache Ausdruck, und obgleich sie die Worte nicht begriffen, verstanden sie sich doch. Als sie sich abends mit leuchtenden Augen trennten, sagte ein warmer, fester Händedruck ihnen gegenseitig mehr Dank, als viele wohlüberlegte Worte es vermocht hätten. —
Am nächsten Tag bei Tisch ärgerte Mabel sich wirklich ganz abscheulich über den zudringlichen Russen, der sie mit seinen missglückenden Versuchen, sie zu unterhalten, langweilte, und zuletzt, um ihn zum Schweigen zu bringen, rief sie ihm zu: „Wenn Sie wollen unterhalten sich mit mir, Sie müssen lernen: Esperanto!“
Esperanto, die neue Weltsprache! das war eine Rettung! diese interessante, geniale Sprache konnte man ja in ein paar Stunden lernen und beherrschen! Sofort lief der Russe in einen Buchladen, kaufte sich ein kleines, gelbes Buch, auf dem stand: Leitfaden zur Erlernung der Lingvo internacia Esperanto und setzte sich hin zum eifrigen Lernen.
Mabel Sanders war unterdessen in ihr Zimmer gegangen, hatte etwas geruht, bestellte sich dann ihren Tee, und sah nun träumend auf die herrlichen Rosen, die Severin Poigna ihr am Morgen gebracht hatte. Sie stand auf, nahm aus der Vase eine der leuchtenden, nebenan ein feines, leises Klingen, und aus dem Chaos von Tönen entwickelte sich die Melodie: „Atmest du nicht dieselben Düfte?“ Lohengrins Liebesgeständnis begann, — zwar nicht meisterlich aber mit Begeisterung und Verständnis gespielt, — Mabel’s Ohr zu umschmeicheln. Sie lauschte wie gebannt. Die Geigentöne sprachen zu ihr eine Sprache, die alle Menschen verstehen, sie sangen leise von Liebe, von Sehnsucht und verschwiegenen Wünschen. Und leise stahl sich sein Name von ihren Lippen, und sie sprach ihn noch einmal vor sich hin, ganz leise und langsam, — wie gut er doch klang! — „Severin“. Als die Töne verklungen, litt es Mabel nicht länger in ihrem Zimmer, sie fühlte sich so verlassen, so allein, so unruhig. Vielleicht fand sie irgend einen Menschen im Gesellschaftsraum.
Sie ging hinüber und fand das Zimmer leer. Schon schritt Mabel zum Flügel, um durch eigenes Spiel ihre erregten Nerven zu beruhigen, da öffnete sich die Tür, und Severin Poigna trat herein. Er hatte sie aus ihrem Zimmer gehen hören, war ihr gefolgt, und stand ihr nun mit bittenden Augen gegenüber. Und diese Augen sprachen eine so eigene, dringende Sprache, dass Mabel selbst nicht wusste, wie ihr geschah, aber sie barg ihren Kopf an seiner Schulter, und er flüsterte in ihr kleines, rosiges Ohr: „Ich liebe Dich!“
Und wieder fanden sie eine Weltsprache, die jeder Mund spricht, sie küssten sich heiss und innig —
Am Abend nahm der Russe mit triumphierender Miene seinen Platz neben der verehrten jungen Dame — die heute wie zu einem ganz besonderen Fest mit grösster Anmut und Eleganz gekleidet schien — ein, und begann sofort:
„Mia fraŭlino!“
Aber er musste mehrere Male seine Stimme vernehmlich erheben, ehe Mabel ihm ihr reizendes, glückstrahlendes Gesicht zuwandte.
Endlich fand er Gehör und fing nun an, seine schön auswendig gelernten Phrasen herzusagen:
„Mia fraŭlino, kiel bi fartas? Mi jam longe ne havis plezuron vidi bin!“
Mabel aber lachte ihm ins Gesicht, hielt sich die Ohren zu und rief immer wieder:
„Kannitverstan, kannitverstan!“
Der Russe schwieg schwer gekränkt und beobachtete mit Eifersucht die verliebten Blicke, die seine Nachbarin mit dem jungen Rumänen tauschte.
Nach dem Essen trat Leutnant Severin Poigna auf den Russen zu und bedeutete ihm höflich, von heute ab die Plätze zu wechseln, denn er hätte den grossen Wunsch, neben Fräulein Mabel Sanders, seiner lieben Braut, zu sitzen.
Obgleich er das alles in sehr schlechtem Deutsch sprach, verstanden ihn doch alle, und seine Eröffnung rief ein grosses Halloh unter der kleinen Gesellschaft hervor und mit der Frau Professor an der Spitze gratulierten alle dem jungen Paar aufs Herzlichste.
Nur der Russe war ärgerlich überrascht, riss die schläfrigen Augen weit auf und stotterte endlich die Frage: „Sie können doch auch nichts Englisch, nichts deutsch, wie Sie sich haben verständigt?“ Da lachte Severin Poigna ihn mit seinen Spitzbubenaugen lustig an und sagte: „Aber, Herr Nywarczk, ich denke, Sie studieren Physik, da müssten Sie doch die neuesten Erfindungen der Elektrizität kennen! Wir haben uns miteinander verständigt durch die drahtlose Funkentelegraph i e !“ Dabei blitzten die beiden Liebenden sich an, und es war wirklich, als spränge von Seele zu Seele ein zündender Funke.
Auf seinem Zimmer angelangt, griff der Russe mit heftiger Bewegung das kleine, unschuldige, gelbe Buch, aus dem er vor einer Stunde noch eifrig die Weltsprache lernte, warf es ins Feuer, und murmelte ärgerlich zwischen den Zähnen: „Dummes Zeug! dummes Zeug!“
Es ist eine reizende Kurzgeschichte aus dem Berlin der Kaiserzeit. Schon damals zog es junge Menschen aus aller Welt in die aufstrebende Metropole, die in dem Ruf stand, dass man sich hier ganz besonders „amüsieren“ könne.
Der Text könnte von Frida Blindow stammen. Unter diesem Namen wurde schon 1906 ein schmales Büchlein von 36 Seiten mit dem Titel „Ein bunter Strauss” und dem Untertitel „Erträumtes, Erdachtes“ im Verlag von C. Wigand, Berlin-Leipzig veröffentlicht. Es kann unter der Signatur Yo 30848 in der Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz in Berlin – allerdings nur zur Benutzung im Lesesaal – bestellt werden.
Hier wird nun mit einem gewissen Augenzwinkern aufgegriffen, wie Esperanto von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Das war zweifellos auch das Resultat der Tätigkeit nimmermüder Propagandisten, denen es immer wieder gelang, dass Berliner Tageszeitungen das Thema Esperanto aufgegriffen haben.
Wie tief verwurzelt Esperanto damals in der Gesellschaft war, sieht man an einer Anzeige in der Zeitschrift „Berliner Leben“ mit dem Hinweis auf eine Medizinische Lichtheilanstalt in der Luisenstrasse 51. Es handelte sich dabei um ein Unternehmen des Sanitätsrats Gottlieb Breiger, der auch an nämlicher Adresse seine Wohnung hatte. Sein Name wird als Vorstandsmitglied der Berliner Esperanto-Gruppe genannt und zeitweise befand sich sogar die Geschäftstelle an seiner Adresse. Er zur Behandlung mit Licht auf Deutsch und auf Esperanto veröffentlicht.