Bevor sich der Berliner Dr. Walter Borgius mit lautem Knall von Esperanto abwandte, hatte er 1907 eine der damals häufigen Propagandaschriften unter dem Titel »Das Weltsprache-Problem« verfasst.
Borgius ist einer der wenigen Esperantisten, die mit Frankfurt/Oder, der Stadt des Deutschen Esperanto-Kongresses 2020 in Verbindung gebracht werden können. Dort wurde er am 2. November 1870 geboren. Er studierte Volkswirtschaft, Jura und Philosophie in Tübingen, Berlin (bei Max Weber), Breslau (bei Werner Sombart) und Heidelberg.
Seine Promontion 1897 an der an der Universität Heidelberg hatte das faszinierende Thema »Die Fruchtmarktgesetzgebung in Kurpfalz im 18. Jahrhundert«. Es gibt eine Eintrag in der deutschen Wikipedia und sehr knapp in der Esperanto-Version.
Schon als Student war er politisch interessiert und veröffentlichte unter dem Pseudonym »Heinz Starkenburg« Beiträge in der Zeitschrift »Der sozialistische Akademiker« im Umfeld der Sozialdemokratie. Bleibenden Ruhm hat er sich durch eine Anfrage bei Friedrich Engels erworben, den er um eine Erklärung bat, was unter »ökonomischen Verhältnissen« zu verstehen sei. Engels antwortete am 25. Januar 1894 und das Schreiben wurde im Wortlaut in der Nummer 20, vom 15. Oktober 1895 (Seite 373/374 PDF) veröffentlicht. Das fand sogar Eingang in Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 39, S. 205–207.
Andere Beiträge von Borgius/Starkenburg in der Zeitschrift »Der sozialistische Akademiker« befassen sich mit Anarchismus und Freier Liebe. Die Zeitschrift war ursprünglich 1895 von Johann Sassenbach als »Organ der sozialistischen Studirenden und Studirten deutscher Zunge« gegründet worden. Zwei Jahre später kam es zu Differenzen und Sassenbach schied aus der Redaktion aus. Von da an führte Joseph Bloch die Zeitschrift unter dem Titel »Sozialistische Monatshefte« als Herausgeber bei neuer Zählung im Juli 1897 fort. Die Ausgaben sind in einer Datenbank der Friedrich-Ebert-Stiftung (mit Textsuche) zugänglich.
Von Heinz Starkenburg (Adresse: Mannheim) gibt es dann nur in Nummer 3 (1897) Seite 216 – 219 einen Beitrag mit dem Titel »Noch einmal Anarchismus und Sozialismus, aber nichts von Borgius.
Ein einziger Beitrag von Heinrich Peus. (1908), H. 6, S. 366 – 370 stellte »Die Welthilfssprache Esperanto« vor und es gab 1910 »Kritisches zur Weltsprachbewegung« von Franz Staudinger, wobei auch Esperanto explizit genannt wird.
Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hatte Borgius eine Anstellung in Berlin als Geschäftsführer des „Handelsvertragsvereins“ in Berlin, später auch des „Deutsch-Französischen Wirtschaftsverbandes“ und des „Deutsch-Rumänischen Wirtschaftsverbandes“ bis 1923.
Meyers Großes Konversations-Lexikon von 1907 erläutert die Aufgabe dieser Organisation:
- Handelsvertragsverein, eine von Interessenten, namentlich vom Verein zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie 1897 gegründete Zentralstelle zur Vorbereitung von Handelsverträgen mit freihändlerischer Richtung. Der H. gibt eine eigne Korrespondenz heraus. Vgl. Borgius, Der H. (Berl. 1903).
Damit hatte Borgius einen ganz handfesten professionellen Zugang zu den Sprachproblemen, die den internationalen Handel behinderten. Das zieht sich durch die Argumentation in seiner Schrift »Das Weltsprache-Problem«
Die dünne Broschüre war nicht in einem Esperanto-Verlag erschienen, sondern in der Reihe »Sozialer Fortschritt« m Verlag Felix Dietrich in Leipzig. In dieser Reihe hatte Borgius schon als Nummer 31/32 über »Handelspolitik und Handesverträge« geschrieben. In der Reihe veröffentlichten viele Wortführer der Bewegung, die sich für »Sozialen Fortschritt« in weitestem Sinne einsetzet. Darunter Adolf Damaschke, der Begründer der Bodenreformbewegung, der Friedensaktivist Leopold Katscher (der 1902 auch eine Biografie von Bertha von Suttner verfasste), bzw deren Mitarbeiter und Esperanto-Pionier Alfred H. Fried. Es gab viele Vertreterinnen der Frauenbewegung (Henriette Fürth, Else Lüders, Alice Salomon, Adele Schreiber, Käthe Schirrmacher) und einigen davon ist Borgius später bei seinem Engagement für den „Bund für Mutterschutz“ begegnet.
Er war viele Jahre – relativ unbemerkt – im Vorstand und konnte sich offensichtlich aus den »Zickenkrieg« heraushalten, mit dem die Frauenrechtlerinnen versuchten ihre Position in dem Verein durchzusetzen. Die Initiative kam ursprünglich von der Dichterin Ruth Bré (Elisabeth Bouness), die aber von dem Berliner Mehrheit im Vorstand bald an den Rand gedrängt wurde. In ihrer Dissertation (Matriarchale Utopien, freie Liebe und Eugenik (PDF). Der Bund für Mutterschutz im Wandel zeitgenössischer Ideen und politischer Systeme) hat Julia Polzin den Einstieg und das Agieren von Borgus in den Bund für Mutterschutz auf den Seite 114 bis 344 untersucht.
Borgius hatte 1904 selbst vorgehabt einen »Verein zur Reform des gesamten Sexuallebens« zu gründen und war ziemlich enttäuscht, als ihm Ruth Bré erklärte, dass sie diesen Verein schon gegründet hätte.
Julia Polzin schreibt:
- Letztendlich erkannte Borgius das Potenzial des Bundes, ließ seinen Plan vom eigenen Verein fallen und bot Bré seine Mitarbeit an. Spätestens jetzt wird Borgius Bré wohl enthüllt haben, dass sich hinter dem Pseudonym Heinz Starkenburg, den sie so häufig in ihren Schriften zitiert hatte, er selbst verbarg.
Borgius alias Starkenburg wurde mit Meyer und Landmann bekannt gemacht. Borgius überzeugte sie, ihm die „fernere Propaganda (fast ausschliesslich in Berlin)“ zu überlassen.
Dann plädierte Borgius dafür, den offiziellen Sitz, die Geschäftsstelle des Bundes in die Weltmetropole Berlin zu verlegen, statt ihn in der Provinz zu belassen.
In Berlin sollte der BfM auch öffentlich groß eingeführt werden. Bei der Zusammenstellung einer offiziellen ErstunterzeichnerInnensliste drang Borgius darauf, diese ausschließlich mit prominenten Namen zu besetzen und Namen wie Metta Meinken und Heinrich Meyer davon zu streichen.
Landmann, der mit Bré über konkrete Mütteransiedlungen in Eden korrespondierte, war einverstanden.
Zur Position von Borgius schreibt Polzin (Seite 114/115) unter Verwendung von Zitaten aus seiner Schrift »Die Ideenwelt des Anarchismus«, Leipzig 1904,
- Auch forderte er die „absolute Autonomie der geschlechtlichen Persönlichkeit“ für Männer und Frauen. Das hieß für Borgius nicht nur die Zerschlagung der grundsätzlich verwerflichen Ehe, sondern auch der Familie, was der Idee Brés widersprach. Borgius’ Ziel war die „Atomisierung der Gesellschaft in freie Einzelindividuen“.
Denn Ehe und Familie bedeuteten für AnarchistInnen Herrschaft und Ausbeutung der Geschlechtlichkeit und der Arbeitskraft der Schwachen: „Wem die Kuh gehört, dem gehört das Kalb.“ Das in sich widernatürliche, künstliche Konstrukt der Ehe töte zudem den eigentlichen Genuss des Liebeslebens, der auf den Hauptreizen des Neuen und des Überwindens von Widerstand respektive des Siegens bzw. des Besiegtwerdens basiere. Die „brutale Unzweckmäßigkeit“ der Ehe erschließe sich auch aus der unterschiedlichen physiologischen Veranlagung der Geschlechter: der „aufs äußerste beschränkten Fortpflanzungsfähigkeit“ der Frau und der nahezu un-
beschränkten Zeugungsfähigkeit des Mannes.
Zudem sei es unmöglich, erklärte Borgius, dass ein einziger Mensch alle sexuellen, emotionalen, sozialen und geistigen Bedürfnisse eines anderen dauerhaft erfüllen könne. Nach der Zerschlagung der sozialen Herrschaftsstrukturen spreche nichts gegen das Zusammenleben freier Individuen, so lange sie wollten, eventuell auch per Vertrag in den jeweiligen Einzelbereichen. Von weniger streng reglementierten Eheformen oder von der freien Liebe hielt Borgius aber nichts! Denn das Wesen
der Ehe, das monogamische Prinzip (dieses staatlich eingebläute „hohle Heiligenbild“, dieser „Spuk“), bleibe auch bei leichter zu lösenden Arrangements erhalten.
Die Freiheit der Frau ließe sich nur durch deren allgemeine Berufstätigkeit oder eine gesellschaftlich organisierte bedingungslose Existenzgrundlage als Gegenleistung zu ihrer Gebär-, Still- und Erziehungsleistung verwirklichen.
Inwieweit seine Ehefrau damit einverstaden war, ist leider nicht überliefert. Beim Esperanto-Kongress in Dresden findet man ihn jedenfalls in der Teilnehmerliste unter Nummer 1024 mit einer Hedwig(1025) im selben Quartier in der Dresdener Lockwitzerstrasse 16 (Strehlen) (Haus 3 bis 7 sowie 14 bis 26 denkmalgeschützte Wohnhäuser der Zeit um 1900 in geschlossener Bebauung, die sowohl im Jugendstil als auch im Stil der Neurenaissance gehalten sind und reichen plastischen Schmuck haben. Die Häuser 14 und 16 wurden 1905 von Schlossermeister Franz Wagenlöchter aus Dresden-Neustadt nach Plänen seines Bruders Wilhelm erbaut. Beide Gebäude sind dreigeschossig. Das Dachgeschoss wurde ausgebaut. Bemerkenswert sind „[d]ie für Dresdner Verhältnisse recht ausgefallenen Fassaden der Wohnhäuser“,[4] so ist die Gestaltung des Eingangsbereiches Nummer 14 mit darüber befindlichem Balkon und Konsolen bemerkenswert; die Fassade zeigt Porträtreliefs. Ein Gutachten der Dresdner Baupolizei beanstandete ausschließlich die Dimensionierung und die Gestaltung der Dachaufbauten, die zum Beispiel am Haus Nr. 16 mit Ranken im Jugendstil geschmückt sind. Der Gestaltungsstil wurde jedoch von dem Amt akzeptiert und das Gebäude am 8. Dezember 1904 in dem Gutachten als zulässig betrachtet.)
Die Familie Borel hatte sich offensichtlich schon viel früher angemeldet.
Ausstieg aus Esperanto
Kurz nach dem Kongress in Dresden war es mit den Sympathien für Esperanto zuende. Borgius veröffentliche eine Abrechung mit Esperanto, in der er hauptsächlich die Reformunwilligkeit der führenden Persönlichkeiten anprangerte.
Druckerei und Verlag waren Liebheit & Thiese in Berlin, wo auch seine handelspolitischen Veröffentlichungen erschienen.
Borgius blieb politisch aktiv. Neben seiner Tätigkeit im Vorstand des „Bund für Mutterschutz“ stand er in Kontakt mit oppositionellen Kräften während des Ersten Weltkriegs. Er hatte aus gesundheitlichen Gründen eine Einberufung vermeiden können.
Bund neues Vaterland
Er wird unter den Mitglieder des Bund Neues Vaterland genannt, der die bedeutendste deutsche pazifistische Vereinigung im Ersten Weltkrieg (am 16. November 1914 gegründet) war. Er hatte seinen Sitz in der Tauentzienstraße Nr. 9 (Charlottenburg?). Bis 1922 waren es nur etwa 200 Mitglieder, darunter aber illustre Namen.
Ende 1918 gab sich der Bund ein neues Grundsatzprogramm, in dem es hieß: „Der Bund Neues Vaterland ist eine Vereinigung, um ohne Verpflichtung auf ein bestimmtes Parteiprogramm an dem Aufbau der deutschen sozialistischen Republik auf demokratischer Grundlage und darüber hinaus an dem großen Werke der Völkerverständigung mitzuarbeiten.“
Trotz dem Bekenntnis zum »großen Werke der Völkerverständigung« scheint es keine erkennbaren Kontakte zur Esperanto-Bewegung gegeben haben, die über gewisse Sympathien von einzelnen Persönlicheiten hinausgehen.
4 Treffer zu starkenburg im Register Stichwort(5.10.2019)
Die Soziologie des ökonomischen Materialismus / [Heinz Starkenburg]. – [Electronic ed.]. Agrar-Programm und Land-Agitation / [Heinz Starkenburg]. – [Electronic ed.]. Freie Liebe : Weiteres zur Debatte über das sexuelle Problem / [Heinz Starkenburg]. – [Electronic ed.]. Noch einmal Anarchismus und Sozialismus / von Heinz Starkenburg. – [Electronic ed.]. 1 Treffer zu esperanto im Register Stichwort(5.10.2019) Die Welthilfssprache Esperanto / Heinrich Peus. – [Electronic ed.].
Zur Geschichte der Weltsprachebewegung / Franz Staudinger. – [Electronic ed.]. Kritisches zur Weltsprachebewegung / Franz Staudinger. – [Electronic ed.]. |