Es wehten keine grünen Fahnen über dem Herzogsschloß in Braunschweig als am Abend des 18. Februar 1911 die geistige und politische Elite des Herzugstums vom Landesherren zu einem Vortrag über Esperanto zitiert worden waren.
Etwa 40 Teilnehmer, darunter der Oberbürgermeister, die Minister, verschiedene Schuldirektoren und Vertreter der Industrie hörten im großen Saal des Schlosses einen Vortrag von Dr. Ernst Kliemke aus Berlin. Danach konnten Fragen gestellt werden. Auf besonderen Wunsch des Herzog-Regenten-Paares trug Dr. Kliemke ein Gedicht von Heinrich Heine in der Übersetzung von Zamenhof (En sonĝo princinon mi vidis) vor. (deutsch und englisch)
Von Staatsanwalt Adolf Reinking (später Vorsitzender des Deutschen Esperanto-Bundes) gibt es einen detaillierten Bericht im Germana Esperantisto Nr. 4 von 1911 über den Ablauf des Abends. Es wurde als großer Erfolg betrachtet, weil alle bekannten Einwände gegen Esperanto zurückgewiesen werden konnten. Die Übersetzung des Beitrags und das Orginal kann man hier nachlesen. Resonanz auch in “The British Esperantist” 1911 Juni.
Der Herzog-Regent Johann Albrecht besuchte einige Wochen später mit seiner Gattin Elisabeth zu Stolberg-Roßla in Berlin den Esperanto-Stand bei der “internationalen Ausstellung für Reise und Fremdenverkehr” und ließ sich dort von Dr. Kliemke durch den relativ umfangreichen Stand führen.
Sie hatten viel gemeinsam, da Kliemke der Direktor der Ostafrikanischen Eisenbahngesellschaft im heutigen Tansania und Johann Albrecht von Mecklenburg der Vorsitzende des Deutschen Kolonialvereins war. Bei der Kolonialtagung in Belin 1910 war Kliemke für Esperanto als Verständigungssprache in den Kolonien eingetreten und hatte dazu in Zeitschriften veröffentlicht.
In Braunschweig war Esperanto schon lange präsent und beim Vortrag im Schloß berichtete Prof. Dr. Eduard Freise, der Leiter der örtlichen Drogistenschule über Schulversuche zu Esperanto. Es gab schon mehrere Gruppen, davon eine der Arbeiter-Esperantisten, mit regelmäßigen Trefffen.
Der historische Ort im Schloß kann nicht mehr im Orginalzustand besichtigt werden, da das Schloß im 2. Weltkrieg beschädigt und später abgebrochen wurde. Ein Teil wurde rekonstruiert und bietet mit historischem Mobiliar einen Eindruck von der Ausstattung, die Dr. Kliemke 1911 noch gesehen hatte, als er vom Herzog-Regenten vor seinem Vortag zu einem Abendessen in den privaten Gemächern geladen war. So mag es ausgesehen haben: