An der Schwelle zum Jahr 2017, in dem in würdevoller Art und Weise an den Tod von Ludwig Zamenhof vor 100 Jahren gedacht werden soll, ist es vielleicht sinnvoll, sich daran zu erinnern, wie die Situation in Berlin damals war. Der Winter 1916/17 ist als “Kohlrübenwinter” in die Geschichte eingegangen. Die Kartoffeln waren knapp geworden, stattdessen wurden Kohlrüben (Steckrüben) in jeglicher Form verspeist. Sie wurden dem Brotteig zugesetzt und als Kaffee-Ersatz verwendet. In Flugblättern wurde für Steckrübengerichte geworben: Steckrübenpudding, Steckrübenklöse, Steckrübenmarmelade. Seitdem haben sie einen schlechten Ruf in der deutschen Küche.
Die Rationierung der Lebensmittel machte sich an Weihnachten bemerkbar. Um Fett zu sparen sollte am Weihnachtsbaum nur eine einzige Kerze brennen. Es wurde eine Flut von Ersatznahrungmitteln auf den Markt gebracht. Täglich 160.000 Portionen Suppe wurden in Speisehallen ausgegeben und waren für viele Berliner die einzige Möglichkeit eine warme Mahlzeit zu bekommen. In den kriegswichtigen Betrieben gab es manchmal Pferdewurst oder Margarine. Schon 1915 waren die Gummireifen der Autos durch eisenbeschlagene Holzräder ersetzt worden, die einen Höllenlärm auf dem Pflaster machten. 1916 überlegte man, die Vorderräder durch Kufen zu ersetzen.
Die Kriegsrohstoffabteilung beschlagnahmte die Buntmetalle, etwa Bierkrugdeckel aus Zinn, von 1917 an auch Orgelpfeifen. Die Nickelmünzen werden aus dem Verkehr gezogen. Als Wechselgeld gibt es Briefmarken.
Esperanto-Bewegung unberührt
In den zeitgenössichen Dokumenten der Esperanto-Bewegung ist davon nichts zu bemerken. Die Berliner Gruppe widmet sich weiter dem Kampf gegen “Ido” und sinniert, welche Rolle Esperanto nach dem Krieg spielen könnte.
Die Produktion der Zeitschrift “Germana Esperantisto” war schon vor Kriegsbeginn nach Dresden verlegt worden, wo auch der Verlag von Ader & Borel seinen Sitz hatte. Damit waren Kräfte frei geworden für die Produktion des “Internacia Bulteno” in dem die offiziellen Berichte der Obersten Heeresleitung auf Esperanto übersetzt und vor allem an das neutrale Ausland verschickt wurden. (Dazu gibt es ein Referat bei der GIL-Tagung 1915).
Eine Reihe von Berlinern war bei “Kriegstagung Deutscher Esperantisten” am 9./10. Dezember 1916 in Dresden dabei: Patentanwalt Schiff, Dr. Kliemke, Pastor Anhalt, sowie Fräulein Nickel aus Potsdam. Sogar Geh. Rat. Prof. Schmidt, Ehrenmitglied des D.E.B., war gekommen.
Die Lage wurde schwierig, da der Sekretär zum Kriegsdienst eingezogen worden war. Auch vom Vorsitzenden Reinking hiess es, dass er “im Felde” stünde. Ein riskanter Ort, denn die Sitzung musste feststellen, dass 151 Mitglieder gefallen seien.
Offensichtlich gab es allmählich Stimmen, die gegen die patriotische Linie des D.E.B. aufbegehrten. Es wurde ein Erklärung verabschiedet, nach der “pazifistisch” und “national” – richtig betrachtet – keinen Gegensatz darstellen würden.
Man einigte sich auf den folgenden Text, nach dem Esperanto in keinster Weise mit irgendeiner Weltanschauung verbunden sei, sondern lediglich ein Mittel zur Verständigung sei.
Es wird erklärt
- Esperanto, das weiter nichts ist als eine Welthilfssprache, d. h. ein Verständigungsmittel verschiedensprachiger Menschen, hat seinem Wesen nach, gemäß der bereits auf dem Kongreß zu Boulogne sur Mer einstimmig angenommenen Erklärung, keine Tendenz, also auch keine pazifistische.
- Die Begriffe „national” und „pazifistisch“ enthalten, richtig gefaßt, keineswegs einen Gegensatz. Die Arbeit zur Gewinnung internationaler Werte, also auch die pazifistische Arbeit, schließt durchaus nicht die Tendenz ein, nationale und vaterländische Interessen hintenanzusetzen, wie andererseits die nationale, vaterländische Arbeit nicht den Blick und die Absicht auf weitergehende internationale Ziele in Handel, Verkehr, Wissenschaft und zwischenstaatlichen Verständigungen der Völker verwehrt
- Der Bund weist daher Einwendungen, die gegen die Betätigung einzelner Esperantisten Im nationalen Interesse oder zu pazifistischen Zwecken gemacht worden sind, als gegenstandslos zurück. Er erwartet, daß seine Mitglieder ihre Forderungen in nationaler oder in pazifistischer Beziehung mit dem nötigen Takt vertreten, so daß Mißverständnisse persönlicher Art in der Richtung, den Nationalen „chauvinistische“ oder den Pazifisten „antinationale“ Absichten anzudichten, um der gemeinsamen Arbeit für Esperanto willen jederzeit vermieden werden.
Noch im Dezember 1916 war es Edmond Privat gelungen Dr. Zamenhof in Warschau aufzusuchen. (GE 1917 2 A Seite 14 – Orginaltext in der Esperanto-Version) Er berichtete, dass Zamenhof lange krank gewesen sei, aber nun wieder als Augenarzt praktiziere. Die Patienten und die Wohnung in der ul. Dzika habe er seinem Sohn Adam überlassen und wohne jetzt in der ul. Królewska 41 in der Stadtmitte. Aber das Leben sei schwer und die Lebenhaltungskosten würden steigen.
Privat stellt fest, dass die Gesundheit von Zamenhof angeschlagen sei. Er bedauert, dass er aus seinem umfangreichen Werk keine angemessen Pension beziehen könne und überlegt, wie man das organisieren könne, da Zamenhof selbst das Thema nicht anspricht.
Er versprach nun, dass nach dem Krieg ein Kongress in Warschau stattfinden solle um Zamenhof die mühevolle Reise zu ersparen.