Gabriel Berger: Auf der Suche nach einer Heimat

Bericht über Dr. L. L. Zamenhof als Augenarzt auf den Seiten 64 bis 68 des Buches:

Gabriel Berger: Auf der Suche nach einer Heimat – Eine jüdische Familie im 20. Jahrhundert, © 2020 Beggerow Buchverlag, Berlin

Band VI der Buchreihe „Die Unruhe der Zeitzeugen des Holocaust“ der Child Survivors Deutschland e. V. (Hrsg.:  Philipp Sonntag)

© 2020 Beggerow Buchverlag

ISBN 978-3-936103-77-9 / 289 Seite

Der Autor schreibt zum Inhalt des Buches :

Die Geschichte der Familie meines Großvaters Josef Berger ist ein lebendiges Geschichtsbuch Europas im zwanzigsten Jahrhundert. Von Abenteuerlust, Streben nach Reichtum und vom Schicksal getrieben zog Josef Berger mit seiner Frau Cywia und deren Kindern, am Ende waren es zwölf, aus dem Heimatlichen Polen rastlos von Land zu Land: 1908 nach Palästina, dann nach Belgien, Holland, England, Deutschland, Frankreich, Israel. Was er suchte, war Wohlstand und Glück für seine Familie. Doch es ereilte ihn eine Katastrophe nach der anderen: Bankrott, Abfall der Kinder vom jüdischen Glauben, Erster Weltkrieg, Bombardierung Londons, Weltwirtschaftskrise, Hitlers Machergreifung, Flucht aus Deutschland und Belgien vor den Nazis, Leben in Frankreich in ständiger Lebensbedrohung unter deutscher Besatzung, Teilung der Familie durch den Eisernen Vorhang.
An seinem Lebensabend in Israel konnte er jedoch für sich einen Erfolg verbuchen: Neben ihm hatten sich alle elf in der Nazizeit noch lebenden Kinder der Bedrohung durch die Nazis entziehen können: in Europa, Palästina, USA, Südafrika. Jedes Mitglied der Familie Berger hatte für sich eine Wahlheimat gefunden. Zur Heimat für die Familie Berger und ihre Nachkommen wurde die ganze Welt. Doch die meisten Nachkommen meines Großvaters Josef Bergers leben heute in Israel.

Gabriel Berger hat seine Tante Lyba 1988 in Mexiko besucht:


[…] An Abenden ließ ich mir von Tante Lyba ihre bewegte Lebensgeschichte erzählen. Von ihr erfuhr ich auch Näheres über die für die Familie schicksalhafte Augenkrankheit, die sie im Jahre 1910 als Kleinkind in Palästina bekam. Es habe sich damals Folgendes zugetragen: Ein dunkelhäutiger, schwarzhaariger arabischer Junge, so erzählte ihr die Mutter, habe in Jaffa in den Kinderwagen geschaut und das hellhäutige, blauäugige, blonde Mädchen bewundert. Bevor die Mutter reagieren konnte, habe der Junge die Wange des Mädchens gestreichelt und unverständliche arabische Koseworte gesprochen. Wenige Tage später habe die kleine Lyba Trachomen bekommen, eine gefährliche bakterielle Augenkrankheit, die in der arabischen Region unter Kindern grasierte.

An einen Heilung sei im damaligen Palästina, mit katastrophalen hygienischen Bedingungen, keinem sauberen Wasser und primitivster medizinischer Versorgung nicht zu denken gewesen.

Kurz entschlossen brach ihr Vater, dem in Palästina ohnehin das geschäftliche Glück nicht hold gewesen ist, die Zelte ab und kehrte mit der Familie nach Polen zurück. Sie kamen provisorisch bei Verwandten in Częstochowa unter. Mit seiner kranken Tochter wandte sich der Vater, mein Großvater Josef, in Warschau an den berühmten jüdischen Augenarzt Zamenhof, bei dem er, seine Frau und die Kinder vor der Abreise nach Palästina Patienten gewesen sind.

Doktor Zamenhof war wegen seiner medizinischen Fertigkeiten in Warschau allgemein bekannt. Weltweit berühmt wurde er aber nicht als Mediziner, sondern als der Schöpfer der Kunstsprache Esperanto. Zamenhofs Idee war es, die leicht erlernbare Sprache mit aus romanischen Sprachen entlehnten Worten und simpler Grammatik zum weltweiten Kommunikationsmittel zu machen, um so die Verständigung zwischen Menschen aller Nationalitäten zu erleichtern. Die so erreichte Aufhebung der babylonischen Sprachverwirrung sollte nach seiner Vorstellung die Kommunikation zwischen Menschen verschiedener Nationen fördern und so zu einem dauerhaften Frieden in der Welt führen.

Josef nutzte die Besuche bei Dr. Zamenhof auch, um mit ihm über dessen Utopie einer weltumspannenden Gesellschaft ohne Barrieren zwischen Sprachen und Kulturen zu diskutieren. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts fand Esperanto weltweit viele begeisterte Anhänger, besonders in Europa, was aber die Katastrophe des Ersten Weltkrieges nicht verhindern konnte.

DDR-Briefmarke, 1987.

Es gehörte zur Tragik damaliger Zeit, dass auch die pazifistisch gesinnten Esperantisten auf beiden Seiten der Kriegsfront gezwungen wurden, aufeinander zu schießen. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Jahre 1914 rief Zamenhof die Diplomaten der in den Krieg verwickelten Staaten zur Gründung der Vereinigten Staaten Europas auf, die gleiche Rechte für alle Menschen, unabhängig von ihrer nationalen oder religiösen Zugehörigkeit, garantieren würden. Heute, hundert Jahre später, erleben wir in Europa den zaghaften Versuch, Zamenhofs Utopie im Ansatz zu realisieren, allerdings unvollkommen, weil ohne den wichtigsten europäischen Kontrahenten des Westens Russland und demnächst vermutlich auch ohne Großbritannien.

Im Jahre 2016 besuchte ich Zamenhofs Geburtsstadt Białystok in Ostpolen. Vor dem Krieg waren drei Viertel der damals etwa 60.000 Einwohner zählenden Stadt Juden. Nach dem Einmarsch der Deutschen 1939 war die Stadt bis 1943 „judenfrei“. Alle Juden, die nicht beizeiten aus der Stadt über die östliche Grenze in dieSowjetunion fliehen konnten oder wollten, wurden ermordet. Das sowjetische Regime war unberechenbar, die Lebensbedingungen in der Sowjetunion waren hart. Aber es gab dort für die Juden eine nicht geringe Über- lebenswahrscheinlichkeit, westlich der Grenze so gut wie keine.

Heute leben in Białystok keine Juden mehr und die zugezogenen polnischen, vorwiegend katholischen Einwohner tun sich mit der jüdischen Vergangenheit der Stadt schwer. Die meisten wissen nichts von ihr. Doch den berühmtesten Sohn der Stadt, Zamenhof, haben sie nicht vergessen. Seinen Namen tragen heute in Białystok eine Straße, eine Schule, ein Kulturzentrum und ein Hotel.

Gedenktafel für Zamenhof an einem Haus in der Warschauer Zamenhof-Straße mit einem Text in Polnisch und in Espe-ranto. den Nazis komplett zer- stört. Die polnische Inschrift der Gedenktafel lautet in deutscher Übersetzung: „An dieser Stelle stand das Haus, in dem im Zeitraum 1898 – 1915 Dr. Ludwik Zamenhof, Schöpfer der Sprache Esperanto, lebte und arbeitete. Diese Tafel wurde aus Anlass seines hundertsten Geburtstags angebracht. Warschau 1959.“

In der Warschauer Zamenhof-Straße, die ich 2015 aufsuchte, erinnert eine Gedenktafel an einem Haus an die Stelle, an der Zamenhof gelebt und gewirkt hat. Hier besuchte mein Großvater Josef vor dem Ersten Weltkrieg den berühmten Augenarzt. Es ist nicht das ursprüngliche Haus, denn dieses wurde, mit dem ganzen jüdischen Viertel, beim Warschauer Ghetto-Aufstand 1943 von den Nazis komplett zer-stört. Die polnische In- schrift der Gedenktafel

Gern erinnert man sich in Polen an den Schöpfer der Sprache Esperanto Ludwik Zamenhof, so auch im Jahr 2017, anlässlich seines hundertsten Todestags. Dabei wird aber meistens nicht erwähnt, dass er ein Jude war.

Wie erwartet konnte Dr. Zamenhof Josefs Tochter helfen. Die kleine Lyba wurde schnell gesund. Und nur kurze Zeit später kam mit Ida in der Familie Berger das sechste Kind auf die Welt. Ob es so geplant war, dass Ida nicht unter den primitiven Verhältnissen Palästinas, sondern im zivilisierten Europa geboren wird, ist nicht überliefert. Tatsache ist aber, dass zwischen den Jahren 1908 und 1910 eine Lücke klafft: Im Jahre 1909, während des Lebens in Palästina, bekam die Familie keinen neuen Nachwuchs. In der Familie kursierte das Gerücht, der Nachwuchs sei nur deshalb ausgeblieben, weil die Mutter in diesem Jahr eine Fehlgeburt gehabt habe. Das Scheitern in Palästina konnte Josefs Unternehmungsgeist nicht dämpfen. Er blieb aber bei seiner Meinung: In Polen sah er für sich und seine Familie keine Zukunft. Die erschütternde Armut, auch unter den Juden, die unflätigen Beschimpfungen und Belästigungen durch die Polen, die ständige Angst vor Pogromen konnte er nicht mehr ertragen und wollte sie seiner Familie nicht zumuten. Also entschloss er sich, Polen endgültig zu verlassen.

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